ISRAEL-WESTJORDANLAND

Prolog

Heute vor zwei Jahren, genau um diese Uhrzeit, bin ich in „meinem“ Krankenhaus operiert worden.

Heute vor zwei Jahren wurden die beiden Krebstumore entfernt. Der Feind in mir.

Heute ist sozusagen mein zweiter zweiter Geburtstag.

Heute, genau zwei Jahre später, sitze ich am Gate eines Flughafens. Ein Ort, an dem ich gern bin, ein Ort, an dem viel Trubel herrscht, ein Ort, der Aufbruch bedeutet und Vorfreude auf Neues verspricht und voller Leben ist.

Und heute Abend werde ich beim Sonnenuntergang am Strand von Tel Aviv stehen und auf den zweiten zweiten Geburtstag anstoßen. Das Leben ist schön.

Tag 1

Ich bereite mich selten akribisch vor.

Im Deutschunterricht in der Schule lese ich nicht wie vorgegeben Lessings Nathan der Weise; einen Abend vor der Klassenarbeit überrede ich meinen Vater, mir sein Ticket fürs Theater zu überlassen (macht der theatermüde Vater gerne!) und schaue mir das Stück an. Das ist effizient. Und visuell bin ich eh aufgeschlossener.

So bin ich auch freudig überrascht, dass am Abend vor der Abreise auf N3 eine Israel-Doku läuft. In den Reiseführer habe ich nicht wirklich reingeguckt.

Ich rufe meine Eltern an; ihr müsst schnell N3 einschalten, da läuft eine Doku über…TRINKE NICHT DAS WASSER AUS DEM TOTEN MEER, DANN STIRBST DU!!!! ruft mein Vater durch den Hörer. Sie gucken bereits die Doku. Ich lege schnell wieder auf.

Am Flughafen stelle ich fest, dass mein Flug nach München Verspätung hat, der darauffolgende ist komplett gestrichen. Am Gate wird bereits ausgerufen: wer einen Anschlussflug hat und schon hier sei, möge sofort kommen und in den früheren Flieger einsteigen. Ich lobe mich ob meiner Überpünktlichkeit.

Wenn man sich nicht akribisch vorbereitet, kann man auch überrascht werden.

In Tel Aviv ist Shabbat, vor der Passkontrolle stehen Tausende Menschen, und das ist kein Witz. Ich gehe zu nem Extraschalter, dort schauen die Menschen irritiert, zeigen auf mich, der Offizielle sagt was auf hebräisch, nun bin ich auch irritiert. Only for Israelis, übersetzt jemand. Wir lachen, ich gehe weiter und verliere mich in der Menge der Tausenden Wartenden.

Nach 90 Minuten bin ich aus dem Chaos raus, ich treffe die Anderen, der Bus fährt zum Hotel, es liegt direkt am Strand und leuchtet ganz bunt.

Durch die Verzögerung (im Übrigen hält am Shabbat auch der Fahrstuhl ungefragt in jeder Etage – und ich wohne im 14. Stock) und der Tatsache, dass es in aller Hergottsfrühe weitergeht, muss ich mein privates Abenddate canceln.

Dafür lerne ich A. aus Linz kennen, sie macht einen netten Eindruck, wir gehen nach dem Dinner an der Strandpromenade spazieren und trinken ein Glas Wein. Ich wollte ja auf meinen zweiten zweiten Geburtstag anstossen (das sage ich ihr natürlich nicht). Wir machen Fotos, am Strand hüpfen ein König und ein Pirat herum. Es ist nicht nur Shabbat, sondern auch Purim.

Vom Bett aus sehe ich das Meer.

Tag 2

Weckanruf um 5.45h und ein weiterer um 5.50h; die habe ich aber sicher nicht bestellt! Später beteuert die Reiseleiterin, dass sie die auch nicht geordert hätte. Immerhin hat auch der Rest der Reisegruppe um 5.45h senkrecht im Bett gestanden.

Wir besichtigen Jaffa (ich kaufe mir noch einen frischgepressten Jaffa-Orangensaft), wir entdecken den Wal, der Jona verschluckt hat, auf der Brücke, dort wo mein Sternzeichen angebracht ist, darf ich mir etwas wünschen, mit Blick zum Meer. Wir fahren durch’s Bauhausviertel und besuchen den Platz, an dem Ministerpräsident Rabin erschossen wurde.

In Caesarea, der alten Hafenstadt, die von Herodes gegründet wurde, besichtigen wir Ausgrabungsstätten und gehen an den Strand. Hier wird immer noch gefeiert, es ist Purim, viele sind verkleidet, Musiker spielen auf der Promenade, Kinder spielen im Sand. Die Menschen sind fröhlich, hier tobt das Leben. Zum Mittag gibt es Falafel auf die Hand, wir sitzen inmitten der Einheimischen.

Auch bei den Höhlen von Me’arot wird gefeiert: Familien picknicken unter dem rosa blühenden Judasbaum, wir probieren das hauchzarte Fladenbrot, das die Drusen backen. Dann wandern wir zu den Höhlen hinauf, in denen Neandertaler auf Homo Sapiens stießen.

Im Carmel-Gebirge bei Haifa wird mit einem Glas Wein (ich trinke heute Wasser) angestossen, dann muss sich jeder vorstellen. Ich bin A. aus Hamburg, das ist die Stadt mit der Elbphilharmonie. Die Gruppe lacht. Jetzt kennt man Hamburg. Und die Elbphilharmonie. Und mich auch.

Tag 3

Es ist früh am Morgen: die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, in der Luft hängt der schwere Duft von Jasminblüten. Ich stehe auf der Dachterasse; links von mir der Hafen von Haifa, rechts schaue ich auf den persischen Garten, der am Berg angelegt ist und über dem der prächtige Bahá’í-Tempel mit der goldenen Kuppel aufragt.

Hier bekommen wir aber Fusspilz, raunt mir eine Mitreisende zu, als wir die Schuhe ausziehen, um das Innere des grössten Heiligtums der Bahá’í-Gemeinde zu besuchen. Ob sie schon mal in ’nem Schwimmbad gewesen sei?, antworte ich. Mich nerven dauernörgelnde Menschen, die sich nicht auf neue Erfahrungen einlassen und nur negatives zu sagen haben. Entspannt Euch einfach mal und geniesst das Leben…

Wir fahren an einem schweren Autounfall vorbei. Notärzte versorgen die Verunglückten, ich schliesse die Augen. Wie schrecklich, sagt A. hinter mir. Wie schnell kann Glück in Unglück umschlagen. Am Abend beim Verlassen unseres Busses klatschen wir und bedanken uns bei unserem Busfahrer, der uns auch heute wieder sicher zurück gebracht hat.

In Nazareth frage ich A., die Katholikin ist, ob der Erzengel Gabriel Maria zur Verkündigung der Geburt Jesu beim Wasserholen an der Quelle erschienen ist (griechisch orthodoxe Ansicht) oder in der Grotte (katholische Ansicht). Wir haben beide Orte und Kirchen – die Gabrielkirche und die Verkündigungskirche – besichtigt. Nichts von beiden, antwortet A. und ist da erstaunlich pragmatisch: Maria war keine Jungfrau. Eine kreative Idee mit dem Engel, finde ich, wenn man eine Schwangerschaft mitteilen muss. Als Atheist habe ich eh eine entspannte Haltung.

Nach einem frischen Granatapfelsaft und der mittäglichen Falafel auf der Mauer in der Sonne essend, machen wir uns auf den Jesus-Trail und wandern von Nazareth nach Zippori. Zippori war die einstige Hauptstadt Galiläas und ist heute eine imposante Ausgrabungsstätte. Wir wandern durch eine Schafsherde, der Raps leuchtet gelb und überhaupt blüht es bunt um uns herum. Was für ein schöner Tag.

Tag 4

Haifa Haifa, so heisst doch ein Song, sagt H. aus Hannover (!). So ähnlich, antworte ich, sie meine wohl Hyper Hyper. Meine Beziehung zu Menschen, die derartige Bemerkungen machen (und diese auch noch ernst meinen) und ausserdem Socken mit nem ‚L‘ und nem ‚R‘ tragen, ist kompliziert. Ich gehe zügig weiter.

Heute haben wir in Akko die Moschee, den Hafen und die Kreuzritterstadt besichtigt und zu Mittag am Bazar Falafel gegessen. Nach drei Tagen Falafel haben wir ein Falafel-Ranking angefangen, die heutigen nehmen #2 ein. Auch ein öffentliches-Toiletten-Ranking gibt es, das fällt in Israel sehr gut aus. Bis auf die Toiletten der griechisch-orthodoxen Kirche (keine Spülung, kein Papier und verschmutzt), liegen sie alle gleichauf mit 4,5 Punkten. Seit Tibet bin ich paralysiert, was sanitäre Anlagen angeht.

In Safed gibt es zwei Synagogen und das Künstlerviertel zu sehen, unterwegs verlieren wir J., der gesucht werden muss und nach 30 Minuten mit einer Kippa auf dem Kopf wieder gefunden wird. Danach suchen wir unseren Bus, den wir nach einem ungeplanten Marsch durch die Natur wiederfinden.

Unser staatenloser Busfahrer ist Moslem, die Reiseleiterin Jüdin, A. eine Reihe hinter mir ist Katholikin, eine Reihe weiter sitzen zwei Protestanten. Ich bin Atheist, und zusammen haben wir den Bahá’í-Tempel, die griechisch-orthodoxe Kirche und religiöse Stätten aller möglichen Richtungen angeschaut. Ein buntes Durcheinander und sehr interessant. In der Moschee müssen die Damen die Köpfe bedecken, in der Synagoge die Herren. Aber beim kulinarischen ist alles wieder im Einklang.

Unter uns liegt der See Genezareth, ein paar Kilometer weiter in Sichtweite die Golanhöhen.

Das Hotel in Kinar ist eine grosse Anlage, ich beziehe einen Garten-Bungalow mit nicht funktionierender Heizung. Der Hotelpool sei nicht nutzbar, teilt man mir an der Rezeption mit, als ich mich über die Heizung beschwere und frage, wann die Frauenbadezeiten sind. Auch einen Shop suche ich vergeblich. Dafür finde ich im Hotel eine Synagoge und einen Bunker (wobei ich unsicher bin, ob Nicht-Juden mit hineingenommen werden). Im Foyer spielen Musiker. Die Mitreisenden kehren enttäuscht vom See zurück, kein Strand, kein Café, und ausgerechnet morgen haben wir den Nachmittag zur freien Verfügung.

Übrigens verfolge ich die aktuell alarmierenden Nachrichten. Wir sind zur Zeit am See Genezareth (ziemlich weit weg von Gaza und Tel Aviv).

Tag 5

Die Sonnenstrahlen legen sich sanft über die Berge. Überall blüht es: gelber Raps mischt sich mit Margariten und tiefroten Mohnblumen, rosablühende Pfirsichbäume wechseln sich mit Olivenhainen und hohen Palmen ab. Auf der Anhöhe 5 Kilometer weiter liegt ein Dorf, das weiß in der Sonne glitzert. Es scheint, als seien wir im Paradies angekommen.

Tatsächlich sind wir auf den Golanhöhen, die zu Syrien gehören und von Israel annektiert wurden. Das Dorf, auf das wir blicken, ist ein syrisches Dorf. Stacheldraht trennt die Straße von der pittoresken Landschaft, ‚Achtung Minen‚ steht auf den Schildern am Wegesrand. Oben auf einem Berg stossen wir auf israelische Bunkeranlagen. Ein Scheinparadies mit einer verlockend schönen Fassade, die sich wie eine Decke aus einem Blütenmeer über Gewalt und Krieg gelegt hat. Unter uns glitzert der See Genezareth in der Sonne.

Ein Überraschungsausflug, nachdem einige Mitreisende sich über den freien Nachmittag in Kinar und dem Hotel ohne nutzbaren Pool, ohne Ortschaft mit Café und ohne Strand am See beklagt hatten. Die Überraschung ist gelungen, wir schauen hinüber zu syrischen und jordanischen Dörfern, hier im Grenzgebiet der Golanhöhen.

Sind alle da?, ruft J. am Morgen in die Runde. Das fragt der Richtige, rufe ich zurück. J. ist heute ohne seine neue Kippa unterwegs, wir stehen vor der Kirche und dem Platz, an dem Jesu die Bergpredigt gehalten hat. Der ganze Vormittag läuft unter dem Motto Jesu: wir besichtigen Kapernaum, wo die Reste des Dorfes stehen, in dem Jesu und auch Petrus gelebt haben. Wir fahren nach Tabgha, dem Ort der wundersamen Brotvermehrung. Wir gleiten mit dem Boot über den See Genezareth, der spiegelglatt vor uns liegt, so als könne man über ihn laufen. Wir (also die anderen) essen Petrusfisch. Wir wandern durch Mangoplantagen. Wir überqueren den Jordan. Ich spaziere am Abend mit A. zum See, an dessen Ufer drei kleine jüdische Jungs herumplanschen und glücklich sind. Wir haben wieder einen beeindruckenden Tag.

Tag 6

Wenn man nur flüchtig das Reiseprogramm liest und sich auf einen ruhigen Spaziergang durch alte Gassen eines kleinen Ortes freut, kann es passieren, dass sich Mesada als antike Palastfestung des König Herodes mitten in der Wüste herausstellt. Das ich entsprechend überrascht bin, sage ich niemanden. Wir sind heute Nachmittag in der Wüste gelandet, es ist heiss, die Sonne brennt. Mit der Seilbahn sind wir den Berg zur Festung hinaufgefahren, abwärts werden wir über die Römerrampe hinuntersteigen. Die Wanderelemente dieser Reise mag ich ganz gern.

Heute Vormittag haben wir Steinböcke und Klippschliefer gesehen (von deren Existenz wusste ich bis heute auch nichts), Kamelherden, die majestätisch auf Bergspitzen in der Wüste stehen und einen schwarz-türkis-schillernden Kolibri.

Ausserdem waren wir im Westjordanland in Jericho, das 24 Kilometer von Ramallah entfernt liegt. Es ist spannend, auf einmal in Gegenden zu sein, über die man sonst nur in den Nachrichten hört und die ganz anders wirken als gedacht.

Mein Tageshighlight war am Vormittag: nachdem wir (in meinen Augen durchgeknallte) weissgewandete Christen bei ihrer Taufe im schmutzigen Wasser des Jordans zugeschaut haben (hier wurde auch Jesus von Johannes dem Täufer getauft) und 10 Meter weiter auf jordanischer Seite dasselbe Spektakel stattgefunden hat, waren wir am Toten Meer. Ich habe im Toten Meer gebadet!

Nachtrag: ein weiteres Highlight ist, dass es erstmalig Kaffeeweisser im Hotelzimmer gibt (dafür keinen Föhn. Man kann nicht alles haben).

Tag 7

Wenn ich im Beduinensupermarkt für eine Banane, zwei Schokoriegel (Rex und Pokemix) sowie eine Haarbürste 10 Schekel (Euro 2,50) zahle.

Wenn ich nach sieben Tagen endlich wieder eine Bürste habe (im Gepäck hatte ich nur einen zusammenklappbaren Kamm von einer Airline).

Wenn wir bereits um 9.00h die erste Ausgrabungsstätte in Tel Arad besichtigen. Das Wetter spielt mit.

Wenn wir aus Sicherheitsgründen Umwege fahren. Der Gazastreifen liegt 20 Kilometer von uns entfernt. Die Straße über Hebron ist unsicher.

Wenn wir mittags in die Höhlen von Bet Guvrin-Maresha hinabsteigen.

Wenn wir durch Wiesen und Felder wandern.

Wenn wir zwischen Olivenbäumen und Kakteen ein Picknick ausbreiten. Mit Tischdecke.

Wenn wir ein Weingut besuchen und israelische Weine verköstigen.

Wenn wir J. ins Krankenhaus in die Notaufnahme bringen müssen. Seit gestern hat er Husten, Fieber und kann nicht mehr schlucken. Der 85-jährige trinkt nicht und ist schwach. Die Ärzte unter den Mitreisenden kümmern sich gut um ihn und raten abends an, ihn ins Krankenhaus zu bringen. N., unser local guide, bleibt bei ihm.

Wenn wir beim Abendessen festellen, dass ich im Hotel eine Suite mit Blick auf Jerusalems Altstadt bekommen habe, während meine Mitreisenden auf Garagendächer schauen und gelbe Badezimmertüren haben.

Wenn sich die andere Reisegruppe im Hotel an die falschen Tische setzt, die schon für’s Frühstück vorbereitet wurden und die Kellner panisch das Geschirr wegräumen. Ein koscheres Hotel muss für die Mahlzeiten unterschiedliches Geschirr haben. Auf Geschirr, auf denen Milchspeisen lagen, darf kein Fleisch aufgefüllt werden und umgekehrt. Morgens gibt es Milchprodukte. Und abends gibt es Fleisch.

Wenn ich die Abendtour ausfallen lasse, um mal für mich zu sein und mich in die Bar setze. Ich muss die ganzen Eindrücke sortieren. Die Reise ist intensiv. Und eine der schönsten, die ich bisher gemacht habe.

Tag 8

Die Nachbarn riefen, da sind Soldaten und Bagger in eurem Garten! Wir trommelten unsere Familie und Freunde zusammen und rannten los.

Die Olivenbäume müssen weg, sagen die Soldaten. Hier kommt eine Mauer hin.

Wisst ihr, wie lange es dauert, bis ein Olivenbaum Früchte trägt? Eine Generation! Die Bäume sind mit uns gewachsen!

Wir stellen uns schützend vor unsere Bäume. Ich erkenne einen der Baggerfahrer. Warum tust du das? schreie ich.

Weil ich meine Kinder ernähren muss. Wenn ich es nicht mache, holen die Israelis jemand anderen. Es tut mir leid.

Wir weinen, als die Bagger unsere Bäume ausreissen.

F., palästinensischer Tourguide im Westjordanland

Heute nimmt uns F. mit zu sich nach Hause. Wir essen dort, sie erzählt uns ihre Geschichte, wir lernen die andere Seite kennen. Wir fahren zu dem übriggebliebenen Garten. Er grenzt an eine hohe Betonmauer mit Stacheldraht. Hinter der Mauer liegt eine jüdische Siedlung.

Heute pflanzen wir einen neuen Olivenbaum in ihrem Garten. Und wünschen ihm, dass er niemals ausgerissen wird.

Tag 9

Könnt ihr mich alle hören? Wir gehen rechts rum, rechts! An der Absperrung (schschhhhhssshhrauschen) vorbei, rechts, die Treppe (schschschhhhhhhrauschen) hoch!!

Letzte Worte aus dem Audio-Guide, bevor die Verbindung zur Reiseleitung abbricht. Statt im Gedränge zwischen Tausenden Gläubigen zu versinken, mache ich am Eingang der Grabeskirche in Jerusalem kehrt und setze mich am Vorplatz auf die Stufen in die Sonne. Ich entdecke R., L. und K., die ebenfalls keine Lust auf die Menschenmassen haben. Jetzt einen Kaffee, sagt R. Und ein Stückchen Apfelstrudel, ergänze ich. Das hätte es im österreichischen ehemaligen Hospiz gegeben, aber wir durften nur auf die Dachterrasse und den Blick über Jerusalem bestaunen.

Wir warten. Punkt 14.45h – auf die Deutschen ist Verlass – kommt der Rest der Gruppe aus der Grabeskirche. Endlich frei, das erste Mal seit Beginn der Reise! Die freie Zeit verbringe ich mit A., K. und S., wir haben jeder einen Wunsch frei. Ich wünsche mir den Apfelstrudel in Österreich, wir kämpfen uns zurück durch die Menschenmassen und den Bazar des arabischen Viertels.

Bei Strudel, Caffe Latte und Sachertorte überlegen sich die anderen Drei, was sie sich wünschen könnten. Shopping! Wir werfen uns wieder ins Getümmel des Bazars und kaufen Schälchen, Schals, Gewürze und geschnitzte Kamele. Endlich sich im eigenen Tempo treiben lassen, das mag ich ja gern.

Ausserdem mag ich K., A. und S. sehr gern, die sich auch für gesunde Ernährung begeistern und sogar fasten. Da jetzt aber Urlaub ist, teilen wir uns am Abend zu Dritt 15 verschiedene Kuchen und Desserts.

Am Vormittag waren wir im Übrigen in mindestens fünf weiteren Kirchen (in einer haben wir gesungen…) und auf dem Ölberg sowie gestern in Bethlehem in der Geburtskirche, damit ist mein Bedarf an Kirchenbesuchen für dieses Jahr gedeckt.

Was sonst noch? Bei der etwas ambitionierten Wanderung über glitschige Felsen gab es einen Kollektivsturz der Luxemburger, zum Glück nur ein paar Schrammen. Und J.? Der liegt noch im Krankenhaus, nachdem die Ärzte eine Lungenentzündung diagnostiziert haben.

Tag 10

Sieben Grad. Es giesst in Strömen. Der Himmel liegt bleiern über dem großen steinernden Platz.

Wir gehen langsam durch den dunklen Gang, der nur von fünf Kerzen beleuchtet wird, die sich in zig tausenden Spiegeln vervielfältigen und dem Raum eine unglaubliche Dimension geben. Vom Band ertönen Namen. Drei Monate dauert es, bis alle 1,5 Millionen Namen, Alter und Herkunftsländer verlesen sind. Es sind die Namen von 1,5 Millionen jüdischen Kindern, die im Holocaust ermordet wurden.

Während ich durch das Flackern der Lichter gehe, streichen die Finger meiner rechten Hand über den kleinen Zweig eines Olivenbaumes, den ich gestern im Garten Gethsemane in die Jackentasche gesteckt habe. Ich bin froh, den Zweig in der Tasche zu haben. Es ist gut, sich an etwas festhalten zu können.

Heute besuchen wir Yad Vashem, Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts. Ein weiterer emotionaler Moment dieser Reise.

Das Museum erspare ich mir, nach dem Gedenksaal für die Kinder gehe ich erstmal einen Tee trinken.

Auf dem Mahane-Yehuda-Markt kaufen wir Gewürze, Nüsse und Brot, danach ist Freizeit. A., S., K. und ich nehmen das Damaskustor in die Altstadt, wir schlendern nochmal durch das arabische Viertel und den Bazar, der abrupt endet und in den jüdischen Teil übergeht. Eine unsichtbare Grenze trennt das laute Treiben der überfüllten Stände mit Schals, Früchten, Schuhen, Gewürzen, Tees und Schüsseln von Kunsthandel und edlen Silbergeschäften auf der anderen Seite.

Nachdem K. dreimal erwähnt hat, dass sie zu gerne noch einen Apfelstrudel essen würde und wir alle einen guten Kaffee trinken möchten, landen wir wieder im österreichischen ehemaligen Hospiz. Das nächste Mal sollten wir zusammen nach Österreich fahren.

Tag 11

Es ist 7.50h. Wir stehen im Gedränge und im strömenden Regen vor der Sicherheitskontrolle, die das jüdische Viertel vom Tempelberg trennt. Der Tempelberg ist das Heiligtum der muslimischen Welt, hier stehen die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom, dessen goldene Kuppel eines der prägnantesten Wahrzeichen von Jerusalem ist.

Wir müssen unsere Taschen ausleeren, Gebetsbücher und Kultgegenstände anderer Religionen dürfen nicht mit zum Tempelberg. Am Tempelberg brechen öfters Unruhen aus; Juden wurde das Zelebrieren von Schlachtopfern auf dem Tempelberg verboten, was Teil einer liturgischen Übung zum Bau des Dritten Tempels sein sollte. Auch hat man bereits die Pläne für den Bau sowie die Innenausstattung organisiert. Ein schwerer marmorner Grundstein für den neuen Tempel wurde bis zur Stadtmauer transportiert: den Grundstein wollte eine Gruppe fundamentalistischer Juden auf dem Tempelberg vergraben. Dass das von der arabischen Welt nicht geduldet wird, war vorhersehbar. Vorsorglich hat man den Felsendom Stück für Stück abfotografiert, um ihn im Ernstfall – eine Sprengung – wieder aufbauen zu können.

Während wir im Regen warten, zieht eine jüdische Familie an uns vorbei, lachend und tanzend, sie singen Hevenu Shalom Alechem und werden von Musikern begleitet. Die Gruppe ist auf dem Weg zur Klagemauer, wo sie heute Bar Mitzvah feiern werden.

Jeden Tag gibt es eine kleine Überraschung von der Reiseleitung: mal ist es frischer Granatapfelsaft, mal arabisches Sesambrot mit salzigem Sanar-Gewürz zum dippen, heute sollte es eigentlich das lang ersehnte Eis werden. Wir stehen mittlerweile vor der Klagemauer (enttäuschend auf der Seite, wo die Frauen hindürfen), nicht nur die Temperaturen sondern auch die Stimmung geht ihrem Tiefpunkt entgegen. Wann können wir zurück zum Bus? wird nicht nur ein Mal gefragt. Eis möchte niemand mehr. Die Reiseleiterin lädt uns in ein kleines Café ein, meine kalten Finger umschliessen die Kaffeetasse, die endlich etwas Wärme bringt. K. und ich teilen uns (mal wieder) ein sehr leckeres Stück Kuchen, das aus Paranüssen, Walnüssen und Schokolade besteht und warm aus dem Ofen kommt.
Ich habe Bedenken, mich zuhause auf die Waage zu stellen; meine Outdoor-Hose, die ich eigentlich für schlechtes Wetter dabei hatte, musste bereits unangezogen im Koffer bleiben, da weder der Knopf noch der Reissverschluss zugehen.

Auf einem Berg in der Nähe der Stadt gibt es ein letztes Glas Rotwein (ich verzichte), dann geht es Richtung Tel Aviv und zum Flughafen.

Der Flug von Tel Aviv nach München hat über 30 Minuten Verspätung, als wir landen, habe ich noch 10 Minuten bis zum Boarding der Anschlussmaschine nach Hamburg. Aus meiner Reisegruppe bin ich die Einzige aus Hamburg; ich spurte mit zwei jungen Israelis, die eine Reihe vor mir im Flieger gesessen haben, los. Ab und an treffen wir auf Flughafenpersonal, die Gate-Änderungen unseres Fluges hochhalten und hektisch in die eine und die andere Richtung zeigen. Wir passieren zwei (!) Ausweiskontrollen und eine Kontrolle fürs Handgepäck, ich laufe weiter und weiter, ich schwitze und bekomme kaum noch Luft. Am Gate ist niemand mehr zu sehen, aber das Lesegerät nimmt mein Ticket noch an, ich renne zum Flieger, geht der nach Hamburg? Ja, antwortet die Stewardess, dann lasse ich mich in Reihe 5 auf meinen Platz fallen. Ich bin am Ende.

Nach 10 Minuten erscheinen meine israelischen Sportskollegen, sie blicken mir anerkennend entgegen. First, rufe ich. Die Daumen gehen nach oben. Meine Stimmung auch. Als Belohnung für diese sportliche Höchstleistung bestelle ich ein halbes Glas Weisswein und esse die kleine Tüte mit den Chips.

Morgen geht es auf die Waage. Und auf den Isemarkt um Gemüse und Obst zu kaufen.

Epilog. Was bleibt.

Interessante Einblicke in so unterschiedliche Welten, die sich in einer vereinen.
Ein Fahrstuhl am Freitag, dessen Knöpfe man nicht drücken kann und der in jeder Etage hält und in dem ein Stuhl steht.
Geschirr für den Morgen und Geschirr für den Abend, streng auseinander gehalten.

24 Kilometer von Ramallah entfernt, 20 Kilometer vom Gazastreifen, 5 Kilometer von Syrien, 10 Meter von Jordanien, auf dem Tempelberg vor der Al-Aqsa-Moschee und auf den Golanhöhen gestanden.
An geschichtsträchtigen Orten zu sein, die ich bisher nur aus den Nachrichten kannte und zu denen ich nun eine Beziehung aufbaue und sie versuche zu verstehen.
Rosa blühende Pfirsichbäume, Rapsfelder, Mohnblumen und Olivenhaine auf den Golanhöhen. Unter mir der See Genezareth. Ein scheinbares Paradies, in dem sich Stacheldraht und Bunker verstecken.
Masada in unendlicher Wüste gelegen, oben auf dem Berg  im gleißenden Sonnenlicht.
Im Toten Meer baden.
Durch den persischen Garten zum Bahai-Tempel in Haifa spazieren.
Wandern auf dem Jesus-Trail.

Hunderte weißgewandete Christen, die sich in den schmutzigen Jordan stürzen, um sich dort wie Jesus taufen zu lassen.
Der Ruf des Muezzin über Jerusalem.
Kirchenglockengeläut.
Klezmermusik und fröhlich tanzende Juden, die zum Fest an die Klagemauer ziehen.
Jüdische Frauen mit Perücken und turbanähnlichen Kopfbedeckungen, verhüllt in züchtiger Kleidung.
Moslimische Frauen, verhüllt in schwarze Gewänder.
Große Holzkreuze, die man sich mieten kann, um damit die Via Dolorosa in Jerusalem zu beschreiten, wie Jesus.

Das österreichische ehemalige Hospiz, das mitten in Jerusalem liegt und so etwas wie ein Heimkommen bedeutet, heim zu Kaffee und Sachertorte und warmen Apfelstrudel.
Köstliches Essen in Israel und Palästina, so viele Salate, so viel Gemüse, so viel Obst und so viel Kuchen. Gewürze, die ich im arabischen Bazar und dem Mahane Yehudi-Markt kaufe.
Falafel – unser Highlight zum Mittagessen.
Ein wunderbares Picknick zwischen Olivenbäumen und Kakteen.

Schöne Gespräche und Wunscherfüllung-Freizeit  mit meinen neuen Freunden.

Emotionale Momente.
Im Olivenbaum-Garten stehen von F., der Palästinenserin, der an einer riesigen Betonmauer mit Stacheldraht abrupt endet. In dem wir einen kleinen Olivenbaum pflanzen, und dem wir wünschen, dass er niemals ausgerissen wird. Zur jüdischen Siedlung blicken, die hinter der Mauer liegt.
Yad Vashem. Der dunkle Saal mit den fünf Kerzen, die sich in den Spiegelwänden vervielfältigen und die unerträgliche Dimension des Holocausts und der vielen getöteten Kinder widerspiegelt.
Jüdische Kinder auf dem Dach spielend, hinter Stacheldraht, abgegrenzt vom arabischen Viertel.

Was bleibt, ist außerdem J. Er bleibt in Jerusalem im Krankenhaus. 15E, sein Platz im Flieger, bleibt leer.

Ende

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