Helgoland Logbuch 1/1

27.05.2023

Ne, das machst Du jetzt nicht, weise ich mich zurecht. Man kann mit dem Fahrstuhl vom Unterland zum Oberland fahren. Oder man kann hochkraxeln. Ich gerate schnell ausser Atem, wenn es aufwärts geht. Andererseits gehe ich nie an mein Limit, wenn ich mich bewege. Meine vielen pneumologischen Untersuchungen sind gut verlaufen, also kann ich kraxeln.

Ich stiefele dem Oberland entgegen: der Himmel blau, die Luft ist klar, um mich herum Gräser und Blumen und die roten Felsen. Und dann bleibe ich abrupt stehen: der Duft der Strandrosen erinnert mich an die Urlaube meiner Kindheit in Dänemark. Im kleinen Holzhaus haben wir jeden Abend unsere zwei Robin-Hood-Kassetten gehört, den dunklen Wald zum Sherwoodforest erklärt und sind wie die Rächer der Armen durch das Dickicht galoppiert. Ich „galoppiere“ weiter dem Plateau entgegen, von dem man eine fantastische Sicht auf die Lange Anna und den Lummenfelsen hat, auf dem sich Trottellummen, Basstölpel, Eissturmvögel, und Dreizehenmöwen tummeln. Es ist wunderschön.

Wieder im Unterland, inspiziere ich die kleinen bunten Holzhäuschen, die sich an der Promenade aneinanderreihen und kaufe mir Pommes. „Achtung Möwen!“, werde ich gewarnt, denn diese greifen aus dem Hinterhalt an und stehlen Fischbrötchen, Eis und Pommes. Schirme zur Abwehr kann man sich borgen, ich bleibe dicht im Schutz der blauen Hauswand stehen, den Blick auf potenzielle Angreifer gerichtet.

Leuchttürme, grüne Wiesen, Schafe und Windräder gleiten im sanften Licht an uns vorbei, Segelboote, das Schulauer Fährhaus, die Strände zwischen Rissen und Blankenese, Övelgönne, die Landungsbrücken in der untergehenden Sonne. Mit der Fähre nach Hause; die Luft riecht nach Meer und nach Heimat.

Logbuch Oman – Epilog

28.04.2023


Wüsten, Hitze, Gebirge, Kamele, Souks, Weihrauch, Rosenwasser, Safran, weisse Gewänder, Lächeln, Freundlichkeit, Reichtum, Gewitter, Wadis, Meer, Strände, Dattel- und Kokospalmen, Islam, Kaffee mit Kardamon, Moscheen, Royal Opera, Sultanat, Märchen aus Tausendundeiner Nacht.

Warum sollte man etwas stehlen?, fragt mich Abdul und schaut verblüfft. Man könne doch fragen, wenn man etwas möchte. Ein Land, das Kriminalität kaum kennt. Ein Sultanat mit Schul- und Gesundheitssystem, in dem alles bilingual stattfindet: Nachrichten im Radio, Ortsschilder, Geldscheine. Weltoffenheit trifft auf Klugheit. Ein Sultanat, in dem bedürftige Omanis Land und Häuser vom Staat gestellt bekommen. Ein Land mit Menschen, die Gastfreundlichkeit zeigen.

Du kommst als Gast und gehst als Freund, sagt unser Jeepdriver. Neugierig tauschen wir uns aus und lernen über das Leben der Anderen. Es ist anders. Es ist sicher nicht alles meines. Einiges ist noch aufzuarbeiten und zu evaluieren. Und doch ist der Austausch wichtig, um andere Kulturen zu verstehen.

Der Oman ist ein faszinierendes Land, ein wunderbares Land, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, das sich lohnt, es kennen zu lernen.

Logbuch Oman – Tag 10

26.04.2023

Kurzum: heute ist Strandtag. Den Ausflug zur Obstplantage und ins Museum lasse ich ausfallen, genauso wie die Infostunde über den Oman.

Wir spazieren am Strand entlang, liegen im Garten unterm Schirm, ich gönne mir mittags in der Poolbar ein Clubsandwich mit French Fries (das erste Mittagessen ohne Keks und Cracker), mache eine Siesta, trinke Kaffee, schwimme im Pool, liege am Strand und schaue auf die tosenden Wellen.

„Es sind die kleinen Dinge im Leben, die einen glücklich machen“, heisst es oft. Aber was genau ist „mit kleinen Dingen“ gemeint? Die Sonnenstrahlen? Die tosende Brandung? Der Duft nach Salz und Meer? Die schöne Unterhaltung? Die Füsse im Sand, die bei jeder Welle etwas tiefer einsinken? Ich finde nicht, dass das kleine Dinge sind. Es sind grosse Dinge, sogar grossartige! Ich meine, was gibt es grösseres als eine scheinende Sonne?

Ich finde das jedenfalls so grossartig, dass ich die morgige Jeeptour zu den nächsten Wadis und Ausgrabungsstätten sausen lasse und in aller Ruhe das Meer und meinen Platz unter den Palmen geniessen werde.

Was genau bedeutet für Dich „es sind die kleinen Dinge, die glücklich machen“? Und was definierst Du als „klein“ und warum ist dies „klein“ und nicht „gross“?

Logbuch Oman – Tag 9

25.04.2023

Wenn auch nur ein Regentropfen fällt, kehren wir um, entscheidet Yassir, der Chef unserer vierköpfigen omanischen Jeepmannschaft. Dort, wo eben noch das Gebirge zu sehen war, ist jetzt eine dunkle graue Wand. Der erste Tropfen fällt auf die Windschutzscheibe. Offroad über den Pass weiter durch die Wadis zu fahren, wäre zu gefährlich, da die Mischung aus feinem Sand und Regen zu einer glitschigen Masse gerät, die selbst unsere Jeeps nicht bewältigen können.

Wir machen eine kurze Lunchpause (ich kann Cracker und Kekse nicht mehr sehen) oben auf 2000 Meter, dann geht es die sicherere Route unter Regengeprassel wieder bergabwärts.

Statt ins Wadi geht es in den alten Teil des Dorfes Al Misfah Al Abriyeen. Wir laufen treppab- und treppauf. Um uns verlassene Gemäuer, dichte, dunkelgrüne Gärten aus Palmen und exotischen Büschen, wir balancieren entlang eines kleines Baches, der einer madeirensischen Levada gleicht. Inmitten des ganzen ein uraltes Becken mit dunkelgrünem Wasser, in dem kleine Kinder planschen. Ein Paradies.

Abends Flug nach Salala, wo wir nachts in unserem Resort ankommen, völlig erledigt. Belohnt wird die Strapaze am nächsten Morgen. Von meiner Terrasse sehe ich Kokospalmen und ganz hinten den Strand und das Meer.

Logbuch Oman – Tag 8

24.04.2023

Auch wenn man still sitzt, kann man Erfahrungen machen. Man kann Erlebtes, das man (ver)beurteilt hat, aus einer anderen Perspektive betrachten und neu bewerten.

Hat mich die Nacht in Sur fast zum Mörder kleiner indischer Kinder werden lassen, die bis spät in die Nacht laut kreischend über den Hotelflur liefen, während die Mütter auf eben jenem vor ihren Zimmertüren plaudernd picknickten, bin ich dann doch froh, dass ich mich nicht lautstark beschwert habe. Eben diese Inder bzw. deren Landsbrüder haben mit ihren Familien im überfluteten Wadi gebadet, ein omanischer Ganges sozusagen, mit schwarzhaarigen Menschen in leuchtend bunten Gewändern. Gegrillt und gepicknickt wird am matschigen Ufer, es wird gewunken und gelacht. Eid Mubarak. Die Expats, die in Dubai und dem Oman arbeiten, geniessen ihre wenige Freizeit, sie gönnen sich eine Nacht im Hotel, wo sie aufgeregt und fröhlich die Zeit mit ihrer Familie verbringen, sie flitzen durchs Museum und bleiben staunend vor den Exponaten stehen.

Möchte ich mich über Menschen ärgern, die sich in ihrer kostbaren freien Zeit freuen? Die vermutlich lange darauf gespart haben, um einen solchen Familienausflug zu machen? Das möchte ich nicht. Ich bewerte die Erfahrung neu und schaue viel freundlicher auf das Erlebte.

Ich sitze am Pool und habe Zeit. Ich habe sie mir genommen (dabei „half“ auch ein irritierter Magen) und schaue den ballspielenden Kindern zu. Es ist laut. Und das ist richtig. Und ich werde auch diese Szenen in guter Erinnerung behalten.

Logbuch Oman – Tag 7

23.04.2023

Welcher Tag ist heute?

Der Tag, an dem ich morgens zum Sonnenaufgang vors Zelt gehe und der Morgen erwacht. Die Vögel zwitschern.

Der Tag, an dem ich nach dem Frühstück zu den Kamelen schaue, die an den Dünen stehen.

Der Tag, an dem wir 370km im Jeep zurücklegen.

Der Tag, an dem wir einen Zwischenstop an den Bienenkorbgräbern machen und picknicken.

Der Tag, in dem ich auf dem Rücksitz döse, mir ist es zu heiss (Abdul sagt, wir hätten über 40 Grad).

Der Tag, an dem wir die Festung von Jabrin besichtigen, die 1670 errichtet wurde. Die Mauern sind dick und halten die Hitze ab. An der Decke über der Treppe hängt eine Fledermaus.

Der Tag, an dem wir am Nachmittag Kaffee mit Kardamon trinken und Datteln mit Sesam essen, während wir über Nizwa schauen.

Der Tag, an dem wir in Nizwa ankommen. Das Hotel ist schön und hat einen wunderbaren Pool, an dem wir unser BBQ einnehmen.

Der Tag, an dem ich beschliesse, das morgige Nachmittagsprogramm ausfallen zu lassen und selbst zu gestalten. Entschleunigung.

Der Tag, der keinen Namen trägt, weil dieser unerheblich ist. Der Tag, an dem Erlebnisse zu Erinnerungen werden.

Logbuch Oman – Tag 6

22.04.2023

Der rote Sand schmiegt sich langsam an mich; still sitze ich oben auf der Düne in Wahiba Sands, der omanischen Wüste. Wenn man so zwei Stunden unbeweglich sitzen bliebe, wäre man im Sand versunken, ich schüttele meine Beine, meinen Rucksack, meine Haare, ich blicke in die Ferne, wo die Sonne untergeht und auf die Kamele, die am Horizont auftauchen.

Es donnert.

Nur einige Augenblicke später sitze ich in meinem Zelt, der Regen prasselt tosend auf das Dach, es blitzt und donnert, ich hoffe, dass das Zelt hier stehenbleibt, während sich das Wasser wie ein kleiner Fluss im Vorraum ausbreitet.

Ausgebreitet hat sich das Wasser auch im Wadi Bani Khalid; die Jeeps bahnen sich langsam ihren Weg durch das Nass, um uns herum schwimmen indische Kinder und stehen kleinere Autos bauchtief im Fluss. Wir steigen aus; meine Flipflops sind glitschig, das Wasser reicht mir bis zu den Knien, wir balancieren ans andere Ufer um unsere traditionellen Snacks zum Lunch auszupacken. Unsere Fahrer in ihren schneeweissen Gewändern kochen Kaffee zwischen Matsch und Palmen, während die Polizei zum Verlassen des Wadis aufruft.

Heute sitze ich auf dem Beifahrersitz neben Abdul. Zum Glück wurde das Thema Religion gestern schon ausführlich besprochen, D. aus der Schweiz hat sich wacker geschlagen. Wir tauschen uns über das Leben miteinander aus. Waren wir eben noch seine Queens und seine drei Frauen, die er mit Nüssen und Eiscreme verwöhnte, ist er jetzt völlig verblüfft, dass man als Frau in unseren Breitengraden nicht seinen Mann um Erlaubnis fragen muss, wenn man (mit Freundinnen) verreisen möchte. Gut, dass wir die cross cultural differences klären, bevor wir in den Oman übersiedeln. Heute gebe es keinen Sonnenuntergang, sagt Abdul und deutet auf den grauen Himmel. Natürlich gebe es den, antworte ich, man müsse nur fest daran glauben.

Wir sitzen auf den Dünen, wir lauschen dem Grollen des Gewitters, das näher kommt, wir schauen, wie die orangerote Sonne untergeht.

Logbuch Oman – Tag 5

21.04.2023

Where are you from?, fragt Abdul, unser Jeep-Fahrer und Guide für die nächsten Tage. D. kommt aus der Schweiz, A. aus Österreich. Abdul aus dem Oman und ich aus Deutschland. Now we are a family, meint Abdul, und es ist ein schöner Gedanke, als kleine internationale Familie durchs Gebirge und die Wüste zu reisen.

Wir halten an einem Stausee, fahren durch Matsch und überschwemmte steinige Pfade, Palmen links, Esel und Ziegen rechts, und wir mittendrin. Das Mittagessen (Snacks wie gehabt: Nüsse, Obst, kandierter Ingwer, Sesamstangen, Kekse) essen wir unter dem Schatten einer Palme, unsere vier Fahrer sitzen abseits auf ihren Gebetsteppichen. Ab heute Abend dürfen auch sie wieder essen, denn Ramadan neigt sich dem Ende zu.

Wir stoppen am Sinkhole von Bimmah, in dem Menschen in bunten Gewändern im türkisblauen Wasser baden, das sich aus Süsswasser aus den Bergen und Salzwasser aus dem Meer zusammensetzt. Der Legende nach ist das tiefe Loch durch den Einschlag eines Sternes entstanden.

36 Grad, ich schwänze die Wanderung durch das Wadi und bleibe im Jeep, weiter geht es dann nach Sur in unser nächstes Hotel. Das Hotel ist gut besucht, lauter indische Kinder toben durch die Flure. Es giesst in Strömen.

Logbuch Oman – Tag 4

20.04.2023

Der Tauschhandel hat begonnen. L. aus der Schweiz reicht uns Karotten rüber, wir revanchieren uns mit Studentenfutter, von dem ich noch einige Tüten im Gepäck habe. Heute lunchen wir nicht verbotenerweise hinter geschlossenen Gardinen in unserem Bus, heute sitzen wir – auch verbotenerweise – mit unseren Snacks unter Palmen am hellblau glitzerndem Meer, fernab von anderen Menschen.

In der Früh haben wir bereits die beeindruckende Quaboos Moschee besichtigt, in der über 6.000 Menschen Platz zum Gebet finden; mit Aussengelände fasst sie über 20.000 Gläubige. Auch hier gibt es bombastische Svarovski-Kronleuchter und einen handgewebten persischen Teppich, der 1,7 Milliarden (!) Knoten zählt und 22 Tonnen wiegt. Auch wenn der Oman keine historische Architektur wie Ägypten oder Jordanien vorweisen kann – es beeindruckt mit seinem Prunk und Reichtum auf andere Weise.

Nach drei weiteren Stunden im gut gekühlten Nationalmuseum geht es für mich in den Pool, nicht ohne noch mit den Schweizern zu scherzen, dass man deren Sprache bis zum Abend noch erlernen muss, denn wir werden in kleinerer Runde zusammen Iftar, das abendliche Festessen beim Ramadan, verbringen.

Logbuch Oman – Tag 3

Das komme aus dem Norden des Omans und beschützte vorm Bösen, sagt der Inhaber des Ali Baba Gift Shops im Souk. Ali Babas Gift Shop sieht tatsächlich wie eine Räuberhöhle aus, Schmuck Silber und Krummdolche hängen von der Decke und an den Wänden, wir sitzen auf Hockern vor drei riesigen Schalen mit altem Silberschmuck, der nach Gewicht verkauft wird. Ich nehme den Kettenanhänger mit, denn Schutz vorm Bösen kann man immer gebrauchen.

Auch Weihrauch – und zwar den teuren – haben wir erstanden, und ich habe gelernt, dass man diesen Weihrauch essen und auch trinken kann. Duften tun diese harten Stückchen auf alle Fälle wunderbar, und beruhigend soll er ausserdem wirken.

Ich bin in meinem Shoppingelement, lediglich gebremst durch die noch immer nicht vorhandene Pin und somit limitiert auf das mitgebrachte Bargeld. Eigentlich auch nicht so verkehrt.

Wir waren heute in einer Hotelfachschule (interessant), auf einem Ziegenmarkt (die für die gerade stattfindenen Festessen angeboten werden), auf dem Fischmarkt (A. und ich haben ob des intensiven Geruchs draussen auf ner Bank gewartet), auf dem Obst- und Gemüsemarkt (super), auf dem Gelände vorm Sultanspalast (dem „Büro“), am Meer und im Pool.

Heute Abend fahren wir an den Hafen in ein Restaurant, auf das wir uns schon alle freuen, denn mittags gibt es nur unsere kleinen Snacks aus dem Lulu-Supermarkt, die wir heimlich im Bus hinter den zugezogenen Gardinen verspeisen. Sind Datteln eigentlich gesund? Das hoffe ich stark, sind sie gerade auf Platz 1 meiner Ernährung im Oman gelandet.

Logbuch Oman – Tag 2

18.04.2023

Marmor aus Italien, Teakholz aus Myanmar, Kristalle und Kronleuchter aus Österreich, die riesige Orgel kommt aus Deutschland: 3.000 Menschen haben innerhalb von vier Jahren das prachtvolle Opernhaus im Auftrag des Sultans in Muscat erbaut; hier wird deutlich, dass der Oman sich weltoffen gegenüber anderen Kulturen zeigt, denn ein Opernhaus ist in der arabischen Welt eher ungewöhnlich.

Danach ein Abstecher zum Strand ans Meer, wo wir Wüstenrosen (lebend) und Kugelfische (tot) vorfinden.

Weiter geht‘s ins Staatshotel, riesige Kronleuchter in noch riesigerer Höhe glitzern auf uns und den Marmorboden hinunter, mehr Prunk geht nicht, selbst die Toiletten sind hier – wie auch in der Oper – grösser als meine Hamburger Wohnung.

Zum Abschluss geht es zu Lulu, was auf deutsch „Perle“ bedeutet und ein riesiger Supermarkt ist. Da während des Ramadans tagsüber Restaurants und Cafes geschlossen haben, decken wir uns mit Obst und Snacks ein, die wir heimlich im kleinen Bus hinter zugezogenen Gardinen essen werden: im Oman herrscht offiziell ein öffentliches Ess- und Trinkverbot, und das gilt auch für Reisende.

Das hat auch heute schon ganz gut geklappt, als wir vom Busfahrer Kaffee mit Safran, Rosenwasser, Nelken und Kardamon kredenzt bekamen, dazu wurden Datteln und karamelisierte Cashewnüsse mit Sesam gereicht.

Vielfältiger kann man den Tag kaum verbringen!

Ich könnte noch über zu kurze Hosen beim Herren (wird zum Umziehen zurück geschickt), nicht mitgenommenen Reisepässen (nein, der Perso gilt hier nicht!) und nicht funktionierenden EC-Karten (zumeist nur in der EU einsetzbar) berichten, aber das spare ich mir für ein andern Mal auf…

Logbuch Oman – Tag 1

17.04.2023

Warme Luft und ein schwarzer Nachthimmel erwarten uns, als wir den Muscat International Airport verlassen. Der Vorplatz mit den grossen Palmen ist in gelbe Lichter getaucht, wir steigen in den kleinen Bus, der auf uns gewartet hat.

Der 6,5-stündige Flug verging wortwörtlich wie im Fluge, A. und ich haben uns viel zu erzählen. Auf dem screen, auf dem man die Strecke des Flugzeuges virtuell verfolgen kann, wird schnell klar, dass wir andere Welten ansteuern: wir überfliegen die Türkei, Syrien, den Irak, Kuweit und Quatar, nicht weit entfernt der Libanon, Georgien etwas weiter oben, so viele Welten, die es noch zu entdecken gibt. „Je mehr ich reise, umso länger wird die Liste, was ich noch sehen möchte“, sagt A., und dem kann ich nur zustimmen.

Der Bus fährt mit uns an riesigen Geschäften vorbei: German kitchen, Toscana kitchen, Ikea, Mc Donalds – in Muscat hier an der Schnellstrasse ist die Welt an einem Ort versammelt.

Über das Hotel ist in der Dunkelheit nicht viel zu sagen; das Zimmer ist in grünliches Licht getaucht, durch die verriegelten Fenster sind Garagen, Häuser und die Autobahn zu sehen, die Klimaanlage summt vor sich hin, im Schrank gibt es zwar keine Borde, dafür aber eine Waage und einen Gebetsteppich. Beides werde ich nicht nutzen.

16.04.2023 Prolog

Und jetzt setzt doch noch das Gefühl der Aufregung ein, gepaart mit Vorfreude.

Die letzten Dinge sind im Koffer verstaut (17kg wie auf jeder Reise), das Handgepäck noch einmal gegengecheckt, die ganzen Euro nachgezählt.

Ich reise mit Euro, und davon sehr viel. Meine Kreditkarte habe ich vor ein paar Tagen sperren lassen müssen (pishing), die neue Karte ist zwar angekommen, die dazugehörige Pin dann aber nicht. Da halfen auch keine Besuche bei der Bank noch die vielen Anrufe bei der Kartendruckerei im fernen Bayern, um das Verfahren zu beschleunigen.

Meine EC-Karte funktioniert, aber nur in der EU. Weder Travellerchecks noch Fremdwährung konnte ich in der kurzen Zeit erhalten; ich muss darauf bauen, dass man meine Euro in der Ferne eintauscht. Dieses Chaos hat die Vorfreude, die sonst früher einsetzt, begraben.

Am Flughafen checke ich ein, ich bin überpünktlich, bummele an den Gates und an den Shops entlang, trinke einen Cappuccino, zahle mit der hier noch funktionierenden EC-Karte, bin freudig aufgeregt auf die kommenden Wochen und auch darauf, meine liebe Reisebegleitung, A. aus Österreich, morgen früh in Frankfurt zu treffen. Ab da reisen wir zusammen.

Die Aufregung wird uns noch etwas erhalten bleiben, denn wir werden auf einige unbekannte Grössen treffen: müssen wir uns während des Ramadan verhüllen? Bekommen wir nur abends zu essen? Was gibt es eigentlich an gefährlichen Tieren? Bislang fokussiere ich mich auf die Riesenschildkröten, auf die ich mich freue. Was erwartet uns sonst? Das werden wir sehen. Ich baue wie immer auf den Überraschungseffekt und bin unvorbereitet.

Die Reise beginnt.

15.03.2023

Im Krankenhaus.

Die Frau rechts von mir lässt alle Formulare fallen, die sie ausfüllen muss. Die Dame schräg gegenüber, die gerade ihren OP-Termin wegen einer Erkältung abgesagt hat, hustet ununterbrochen. Die Frau mit der Perücke, die mir gegenüber sitzt, nimmt nonverbal Kontakt zu mir auf; wir kommunizieren über Blicke, die wir uns zuwerfen. Vorm Wartezimmer herrscht Chaos: die Technik ist ausgefallen: Ärzte, Assistenten und Patienten laufen umher, Turnschuhe mischen sich mit Croqs und Winterstiefeln.

Ich schliesse die Augen, fokussiere mich auf den Atem und bin entspannt. Heute ist mein Vor- und Nachsorgetermin. Angst habe ich nicht.

Ich denke, dass ich gesund bleibe, sage ich zu meiner neuen Ärztin. Das denke sie auch, antwortet sie. Ich habe ein Update über meine Untersuchungen seit unseres letzten Termins gegeben: Lunge geröngt, Knochendichte gemessen, Bauch (und Schilddrüse) geultraschallt, Checks wg. der Tamoxifeneinnahme beim Augenarzt und Dermatologen, alles im grünen Bereich. Sie ist erfreut und auch clever und fragt nach, wie es mit der verschobenenen Darmspiegelung aussehe; wegen meines seltenen (und nur teilweise erforschten) Gendefekts würde sie mir raten, das auch noch anzugehen. Natürlich hat sie Recht.

Sie untersucht mich sehr sorgfältig, baut ein nicht geplantes Ultraschall ein, und auch als sie länger auf einer Stelle verharrt, werde ich nicht nervös. Da wir uns noch nicht so lange kennen, möchte sie sich einen genauen Überblick verschaffen. Ich mag meine neue Ärztin. Ob ich noch ein Rezept bräuchte? Das sei ja jetzt die Kür mit dem Tamoxifen…ich versichere, dass ich wirklich auf zehn Jahre verlängern möchte, ich kenne die Risiken, ich könne mit den Nebenwirkungen umgehen, ich sei mir sicher. Ich bekomme mein Rezept und Nachfolgetermine zur Mammographie etc. für den September.

Ob ich wieder auf Expedition ginge, fragt mich mein Lebensretter/Chirurg, der auch im Pulk vor der nicht-funktionierenden Technik steht, und deutet auf meine Arktisjacke. Ich deute nach draussen, es schneie, da könne man die Jacke schon mal tragen. Wir plaudern noch etwas, dann bekomme ich mein Rezept und neue Termine und verschwinde im Schnee, immer noch gesund, und so soll es sein.

25.01.2023

Vorfreude.

Im Souk laden Kaschmirschals, Krummdolche, Teppiche und Goldschmuck zum Stöbern ein, wir kreuzen in einer traditionellen Dhau vor der Felsenküste, es geht mit dem Jeep durchs Gebirge bis an die Küste des Indischen Ozeans, abends gibt es ein Naturschauspiel am Strand, wo wir große Meeresschildkröten bei der Eiablage beobachten, wir beziehen ein Camp zwischen gigantischen Sandbergen, die rot, golden und kupferfarben leuchten, und leuchten tun nachts auch die Sterne über unseren Zelten. Weiter geht es mit dem Jeep durch die Wüste, in der Oasen und Dattelhaine auftauchen, Kamelherden, Dromedare und Esel bewegen sich langsam durch die Dünen, die Nachmittagssonne taucht die Gipfel der Berge in goldenes Licht, der Pool liegt zwischen Papayas, Bananen- und Kokospalmen, Südseefeeling.

Ich bin schnell zu begeistern. Worte wie Wüste, Meeresschildkröten, Gebirge, Palmen und Pool triggern mich – im positiven Sinn. Das nächste Abenteuer ist gebucht. Es wird Zeit, das kühle Europa in die Wüste zu schicken.

13.01.2023

und rechts liegt das Meer.

Stürmisch ist es, der Regen prasselt unaufhörlich nieder, und stürmisch war auch meine Woche. Krisenmanagement kann ich: Optionen ausloten, Lösungen überlegen, angreifen. Nichts ist mir mehr zuwider als Herausforderungen, denen ich hilflos ausgeliefert bin. Das war bei meinen Erkrankungen der Fall. In diesem Fall kann ich selbst agieren. Und so schaukelt mein kleines Boot im Sturm und im Regen auf den Wellen umher, aber untergehen wird es nicht.

Ich möchte heute Nachmittag durch die Vorderreihe bummeln, entweder Nusseis mit Sahne in der Eisdiele oder ein Stück Nusstorte bei Niederegger essen, eine helle Hose möchte ich kaufen, im Hotelpool schwimmen, am Strand entlang wandern und abends beim Italiener essen. Oder in der Marina.

Ich steige in Travemünde-Strand aus: auf in die Bäckerei und mit Ei und Käse belegte Brötchen bestellen! Koffer im Hotel abgeben, und dann in die Vorderreihe. Aus der hellen Hose wird eine dunkelblaue Jeans, und während ich durch Sturm und Regen trabe, stelle ich fest, dass ich weder Eis noch Torte möchte. Meine Planung läuft ja super, denke ich, wird aber durch eine Schwimmeinheit und den Besuch beim Italiener wieder eingehalten. Der Regen prasselt auf das Zeltdach, vermischt sich mit den tosenden Wellen des Meeres, während ich mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und gegen den Wind am Strand zurück ins Hotel marschiere.

Wie geht es Dir?, frage ich mich. Gut, antworte ich. Das Boot wird nicht sinken. Morgen wird der Wind sich legen, die Sonne hinter den Wolken hervorkommen, und das spiegelglatte Meer wird glitzernd strahlen.

30.12.2022

Rückblick/Ausblick.

Ich schlage das kleine weisse Buch auf. Das tue ich jedes Jahr, wenn es sich dem Ende zuneigt. Ich blättere auf die letzte beschriebene Seite, die die Wünsche – Vorsätze klingt mir zu streng – des aktuellen Jahres aufführt. Ich bin gespannt, was ich mir für dieses Jahr gewünscht und was ich davon umgesetzt habe. Sieht gut aus, denke ich und fange an, die Punkte abzuhaken: gesund bleiben steht an erster Stelle, und wenn man von den Löchern in den Netzhäuten und dem damit verbundenen unangenehmem Augenlasern absieht, ist das Ziel erreicht. Ich gelte jetzt ausserdem als geheilt, was nicht wirklich viel bedeutet, aber ich feiere die Feste, wie sie fallen.

Gesportet, geschwommen, gesund ernährt, gereist, geküsst, geliebt, das Leben genossen, picknicken bei Sonnenaufgang im Freibad, Eisbären am Nordpol gesichtet, wie im wunderbaren Film „Tod auf dem Nil“ eben diesen mit einem kleinen Flussschiff – british style – von Luxor nach Assuan hinabgeglitten, mich in Nizza im Park unter Palmen um die eigene Achse gedreht, ganz schnell und immer schneller, die Balance, die habe ich gehalten, innerlich und äusserlich.

Natürlich war nicht alles gut: viele sind in diesem Jahr von uns gegangen, und das berührt mich sehr. Berühren tut mich der Krieg und meine Kollegen im Büro in Odessa, die tapfer die Stellung halten und am 22.12. Weihnachtsgrüsse schickten. Da habe ich geweint. Auch andere Dinge, die hier nicht hingehören, waren schwierig und werden schwierig bleiben.

Den Fokus lege ich auf die schönen Dinge – was nicht heisst, dass ich die Herausforderungen verdränge – doch die schönen Dinge sind es, die mir Kraft geben und mich glücklich machen.

Ich blättere im Büchlein zurück und lache über meine Anmerkungen. Eine Liste für 2021 fehlt. Daneben steht: „was war da los? Keine Vorsätze?!? Trotzdem auf der Spur geblieben. :)“

Anmerkung zu den Wünschen aus 2017, dem Jahr, in dem ich krank wurde: „das Jahr verlief anders als erwartet. Dafür lustigerweise viel umgesetzt.“ Die Wünsche (Meditation, Taiji, Balance, bewusst leben, gesunde Ernährung, Ruhe) gab es schon, bevor die Erkrankung kam.

Ich lege eine Wunschliste für 2023 an. Und setze schon jetzt einen Vermerk drunter: „Du machst das gut.“

Ende 2023 werde ich das weisse Büchlein wieder aufschlagen.

Epilog

12.10.2022


„Wenn du an einen neuen Ort gelangst, warte. Es braucht Zeit, bis die Seele nachkommt.“ (Weisheit der nomadischen Indianer)

Meine Seele ist nicht angekommen. Weder in Kairo noch in Luxor, in Edfu oder in Assuan. Selbst meinem Koffer war das zu schnell, auch er braucht Zeit, um nachzukommen. Ich warte.

Ungewöhnlich ist das schon, denn normalerweise bin ich ab Taxifahrt zum Flughafen im Urlaubsmodus und bei mir.
„Ich finde es toll, wie Du für Dich das Programm anpasst und Dein Tempo gehst. Das können die meisten nicht“, sagt die Psychologin aus der Reisegruppe zu mir. Für mich ist das normal geworden, spätestens seit der Erkrankung achte ich darauf, dass ich in der inneren Balance bleibe und korrigiere äussere Umstände, wenn dem nicht so ist.

Diese Reise war mir zu schnell, zu viel Programm in zu kurzer Zeit, zu unstrukturiert. Sprachlos schaue ich aus dem Fenster, als wir vom Flughafen in Kairo zum Hotel fahren: ich verstehe nicht, was ich sehe. Riesige Hochhäuser reihen sich aneinander, dazwischen Brachflächen, halb abgerissene Gebäude, halb neu gebaute Häuser, verfallene Bauten inmitten von Müll und dem Lärm des stockenden Verkehrs, die flackernden Lichter, und dort hinten die untergehende Sonne, der einzige Ruhepol in dem Chaos.

Meine Seele kommt hier nicht an, und Zeit zum Warten gibt es nicht.

Vielleicht ist sie zuhause geblieben. Ich schaue mich um. Ich setze mich hin. Und warte.

Logbuch Kairo & Nil – Tag 8

10.10.2022

„Nicht essen!“ Walter, der Lehrer aus der Steiermark und Dr. P., der Gymnasialdirektor aus Paderborn, gucken kritisch auf das von mir erstandene Hühnchenbaguette. Den Salat habe ich bereits herausgepult, aber meine letzten verbliebenen Mitreisenden finden es immer noch bedenklich. Walters Horrorgeschichten geben den Ausschlag: trotz Hunger verzichte ich auf den potenziellen Salmonellenträger und greife zu meinem Studentenfutter, von dem ich immer mehrere Tüten mit mir führe.

Über sechs Stunden haben wir hier auf dem Airport Cairo herumzukriegen, es gibt nicht wirklich etwas zu tun. Wir kaufen Schokolade. Wir trinken einen Kaffee. Wir suchen die Toiletten. Wir erzählen uns lustige Dinge.

Derweil steht der Rest unserer Reisegruppe vor dem Check-In, und das seit drei Stunden. Ihr Gepäck wurde nicht von Assuan an die Ziel-Destination durchgecheckt, sie müssen in Kairo auschecken, durch diverse Sicherheitsschranken gehen und dann wieder einchecken. Nur hat ihr Schalter noch nicht geöffnet. Wenn man seit 5 Uhr morgens auf den Beinen ist und der Tag noch laaaang werden wird, ist das nicht so angenehm. Dr. C., der bisher einen ruhigen Eindruck machte, hatte bereits in Assuan einen Wutausbruch, da sein Begleiter, Dr. P., mühelos durchchecken konnte, was ihm, der exakt dasselbe gebucht hatte, verwehrt wurde.

„Noch machen wir Witze“, sage ich, „vermutlich wird dann unser vermeintlich durchgechecktes Gepäck auf der Strecke bleiben. Mitsamt der Horde an erstandenen Skarabäen und Pyramiden, die man durchaus als spitze Gegenstände deklarieren kann und besser nicht ins Handgepäck tut. Dr. P. tut sie in den Koffer, zum Panamahut, der dort in einer Hutschachtel ruht. Kurioses Gepäck.

Kurzer Zwischenstop in Wien, ein weiterer Sicherheitscheck, ich kaufe eine Brezel mit Butter und Schnittlauch und bekomme eine zweite geschenkt. Wien ist wunderbar.

Nach 16 Stunden Rückreise und drei Flügen mit drei Airlines bewahrheitet sich meine Befürchtung. Das Kofferband rollt und rollt, verlassen und leer, und ich, ich bin die Einzige, die hier noch steht. Mir ist zum heulen. Nach 16 Stunden will ich nur noch nach Hause und nicht noch einmal quer durch den Airport laufen und Formulare ausfüllen. Dafür spare ich Zeit zuhause, denn eigentlich packe ich immer bei Ankunft die Koffer aus. Jetzt packe ich mich nur noch in mein Bett. Diese Reise wird als eine der chaotischen in Erinnerung bleiben. Mit Pyramiden.

Logbuch Kairo & Nil – Tag 7

09.10.2022
„Das ist Helgoland im Nil“, konstatiert P., der neben mir auf der Feluke sitzt. Ein kleiner roter Felsen mit grünem Türmchen und Möwen ist vor uns aufgetaucht, der geschickt umsegelt wird.
So geschickt sind wir nicht auf unsere Feluke gekommen; nachdem die merklich reduzierte Gruppe (mehrere Magendarm- und ein Allergiefall) eine halbe Stunde bei 40 Grad in der Sonne gewartet hat, muss ein Zubringerboot organisiert werden, da wir in einer windstillen Ecke des Nils unsere Ausgangsposition haben.

Wir klettern auf das Boot und fahren der Feluke entgegen. Akrobatisches Umsteigen mitten auf dem Nil von Boot zu Boot, aber wir sind ja mittlerweile einiges gewohnt.

Souvenirs kommen unter der Decke des Tisches zum Vorschein, die ägyptische Butterfahrt kann starten. Walter kauft ein Krokodil aus Holz, welches weit weniger spektakulär als die tote Schlange und der abgehackte Schafskopf ist, die er sonst von seinen Reisen mit nach Hause brachte. Der Österreicher ist sehr amüsant, aber die crosscultural differences machen sich bemerkbar.

Die Fahrt mit der Feluke ist schön. Auf den Besuch des Bazars verzichten Birgit, die wieder etwas fitter ist und ich, wir marschieren auf der heissen staubigen Strasse zurück zu unserem Schiff. Mein Geld habe ich P., dem freundlichen Gymnasialdirektor aus Deutschland, anvertraut, der mir Souvenire vom Bazar mitbringen wird. Da habe ich keine Schafsköpfe oder tote Schlangen zu befürchten.

Logbuch Kairo & Nil – Tag 6

08.10.2022


Edfu. Irgendwann nachts legen wir an. Die armseligen braunen Häuser sind in gleissendes Neonlicht getaucht, Einheimische in langen Gewändern laufen am Kai umher.
Geschlafen habe ich bisher nicht sehr gut, da während der Fahrt die Wand am Bett laut klapperte.

B., die 82-jährige Lübeckerin, die ihre wohl letzte Ägyptenreise mit ihrem Sohn bestreitet, liegt mit Magendarm flach. Ich bringe mein Elotrans vorbei. Ich nehme prophylaktisch Tabletten ein, die Österreicher sorgen mit Whiskey vorm Frühstück und nach dem Dinner Unverträglichkeiten vor. Crosscultural differences.

Die Gruppe der Edfu-Tempelverweigerer wird grösser; während ich relaxt mit den Amis und den Kanadiern am Pooldeck liege, ist meine Gruppe wieder mal nicht pünktlich zur Abfahrt zurück. Langsam wird es Zeit für unseren Toten.

Wieder gleiten wir den Nil hinunter, wieder säumen riesige Palmen das Ufer, vorbei an braunen armseligen Hütten, teils mit Stroh bedeckt, Esel und Kühe baden im Nil, Vögel fliegen auf, Männer in kleinen Holzbooten, sie winken, Frauen waschen Wäsche im Fluss, wieder laufen Kinder am Ufer entlang, rufen, auch sie winken, schwimmen spielerisch auf das Schiff zu, Freude inzwischen der Armut und dem ganzen Müll, ich muss weinen.

Nachmittags legen wir am Kom Ombo Tempel an, der den Göttern Sobek und Haroeris gewidmet ist. Ich mache eine neue Reisegruppe für die Rückreise auf, ich fliege mit zwei österreichischen Lehrern bis nach Wien. „Da wir sechs Stunden Zeit beim Umsteigen haben, können wir uns betrinken“, so meine whiskeyerprobten Reisebegleiter. Nun ja….Abends Motto-Party der Amerikaner in der Bar, Rüdiger kommt in Kaftan, Kopfbedeckung und angemalten schwarzen Schnurrbart aus der Kabine. Wir sitzen oben an Deck und geniessen die frische Luft und die schwarze Nacht.
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Logbuch Kairo & Nil – Tag 5

07.10.2022

Um 7.30h verlässt die Gruppe das Schiff, ich mache mich auf den Weg zum Pooldeck. Eine Kanadierin im weissen Nachthemd und Zigarette bietet sich zum Plaudern an. Ein entspannter Vormittag. Um 13.00h soll das Schiff ablegen und unsere Gruppe Lunch im Bordrestaurant bekommen. Von meiner Gruppe fehlt allerdings jede Spur. Ich esse allein. Um 13.30h bewegt sich das Schiff, ich gehe zur Rezeption, um meine Gruppe als vermisst zu melden. Zum Glück war es das Schwesterschiff, das neben uns ablegte. Um 13.50h kommt die Gruppe aus dem Tal der Könige zurück; der Guide konnte wieder mal kein Ende finden, obwohl die Hälfte bereits im Bus sass und zurück zum Schiff wollte. Das Essen sei bereits abgeräumt (solche Witze mag man nach fast sieben Stunden Hitzeexkursion gern), sage ich und gehe zurück aufs Pooldeck, um beim Ablegen zuzuschauen.

Um 15.00h höre ich es tropfen; das Wasser kommt aus der Kabinendecke, über mir liegt das Pooldeck. Entwarnung vom Technikteam: vier Ägypter stehen in meiner Kabine und reparieren die Klimaanlage. Derweil sitze ich auf meinem Balkon mit dem verschnörkelten Geländer und winke den badenden Kindern zurück, während wir am palmenumsäumten Ufer des Nils entlanggleiten. Teatime auf dem Pooldeck, schöne Gespräche mit den wieder anwesenden Mitreisenden, Sonnenuntergang. Endlich kommt Tod-auf-dem-Nil-Feeling auf!

Logbuch Kairo & Nil – Tag 4

06.10.2022


Meine heutige Heldin heisst Hildegard.
Hildegard hat Fächer erstanden und schenkt mir, die ich mit knallrotem Kopf in den Seilen hänge, einen ihrer Exemplare. Über 40 Grad sind es in Luxor, wo wir in Karnak, der grössten Tempelanlage Ägyptens, die berühmten Widder-Sphinxe besuchen. Im gigantischen Säulenwald versuche ich, jedes Schattenplätzchen mitzunehmen, aber unser ägyptischer Guide kennt keine Gnade und setzt seine Erläuterungen lang und gern unter praller Sonne an.
Ich bin froh, als es wieder Richtung Bus geht und bin die Erste an Bord. Ein Nordlicht bleibt eben ein Nordlicht.

Check in auf dem Flussschiff, mit dem wir den Nil hinabgleiten werden. Ich bin begeistert: es sieht tatsächlich very british aus, wie in meinem Lieblingsfilm „Tod auf dem Nil“. „Nun brauchen wir nur noch einen Toten“, konstatiert P., der Gymnasialdirektor, der beim Lunch im Bordrestaurant neben mir sitzt. Wir haben ja noch ein paar Tage vor uns…

Zum Sonnenuntergang geht es zum Luxor-Tempel, leider sind wir zu spät losgefahren, und die Sonne ist schon weg. Das war die letzten Abende nicht anders, obwohl wir uns rückversichert haben, den Sunset vom Pool aus schauen zu können. Langsam kristallisiert sich heraus, wer unser Toter sein wird…

Da das Frühstück für morgen um 6.30h und die Abfahrt zum Tal der Könige um 7.30h angesetzt wird, beschliesse ich zum Erschrecken meiner intellekten Mitreisenden, morgen einen Pooltag einzulegen und damit einem Kollabieren unter der brennenden Sonne zu entgehen.

Logbuch Kairo & Nil – Tag 3

05.10.2022


„Jetzt stimmen wir kurz ab, die Mehrheit entscheidet, und in fünf Minuten ist das Thema erledigt“, sage ich forsch. Ewige Diskussionen sind nicht meins, vor allem nicht, wenn es um so etwas banales wie die Vorstellungsrunde geht, die unser ägyptischer Guide gern im Schatten der Ibn-Tulun-Moschee, der ältesten Moschee des Landes, durchführen möchte, einige Mitreisende dies aber als respektlos erachten. Die Mehrheit sieht das wie unser Guide und ich, wir stellen uns vor: ca. 70 Prozent der Gruppe sind Lehrer, dann folgt die Gruppe der Ärzte und Psychologen, der ein oder andere Geschäftsführer und Rentner und ich.

Wir steigen nach oben auf die Plattform der Moschee, die ohne Geländer bei uns so nie genehmigt worden wäre, aber die Aussicht über die staubigen Dächer der Chaosstadt Kairo ist toll.

Drei Mitreisende werden vergessen und müssen gesucht werden, dann geht es weiter ins Ägyptische Museum: 2,5 Stunden durch die vielen Räume mit Steinen, Schriften, Sarkophagen und Mumien. Klimaanlage Fehlanzeige, und bevor mein Kreislauf ganz den Geist aufgibt, nehme ich die FFP2-Maske ab. Wenn ich hier nicht im Gedränge infiziert werde, dann nirgendwo.

Und wieder geht es durch die Stadt, vorbei am Al Tahrir Platz und hinunter zum Nil, wo wir eine kleine Bootstour mit Picknick machen. Meine Mitreisenden sind quengelig, es ist bereits 16.00h, und die letzte Mahlzeit war das Frühstück um 7.30h. Nicht jeder (eigentlich niemand) schleppt wie ich Studentenfutter, Bananen und ein trockenes Brötchen mit sich herum; dank meiner Medikamente, die ich über den Tag verteilt nehme, bin ich essenstechnisch immer ausgerüstet. Ich bitte den Österreicher, sein Saftglas etwas sicherer auf dem Tisch zu platzieren, um weiteren Dramen um das Thema „Hose“ vorzubeugen.

Die nächsten Unruhen entstehen, als klar wird, dass es heute auch kein Abendessen geben wird und die Gruppe morgen früh in unterschiedlichen Fliegern nach Luxor sitzt. Gruppe 1 darf um 4.00h das Hotel verlassen, Gruppe 2 um 5.15h. Ich habe Glück.

Logbuch Kairo & Nil – Tag 2

04.10.2022

Ich schaue fassungslos an mir herunter. Ein Riss geht übers rechte Hosenbein, vom Knie bis hoch auf den Oberschenkel, es schaut aus wie eine klaffende Wunde, aber aus Stoff. Gestürzt bin ich nicht, ich habe mich nur einfach vor die Pyramide gekniet, und das war zuviel für meine altersschwache Hose, die mich jahrelang auf Reisen begleitet hat. Der Tag liegt noch vor uns. Ich knote eine dünne Strickjacke, die ich (vermeintlich) sinnloserweise (bei 35 Grad) im Rucksack habe, um die Hüfte, um den Riss zu kaschieren. Geht so semi.

Cheopspyramide, Sphinx, Stufenpyramide, Gräber,ein Lunch unter Bäumen in einem Garten, und irgendwann bei Sonnenuntergang zurück ins Hotel. Ein anstrengender Tag in der Hitze und ohne Schatten geht zuende, aber morgen soll es entpannter zugehen. Bestimmt tut es das, denn morgen werde ich hoffentlich mal ohne Hosenprobleme bestreiten.
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Logbuch Kairo & Nil – Tag 1

03.10.2022

Logbuch Kairo & Nil – Tag 1

Warum muss ich immer so einen Blödsinn machen? Der Wasserhahn, den ich unter der Toilette am Flughafen in Kairo entdeckt habe, ist nicht für die Spülung! Wofür der Hahn ist, ist unklar; aber das Wasser spritzt mit voller Wucht oben aufs linke Hosenbein, und das sieht so aus, wie ich nicht möchte, dass es aussieht.

Ich laufe zurück in die Halle, wo meine Reisegruppe mit meinem Koffer auf mich wartet. Was die jetzt wohl denken werden, denke ich. Gar nichts werden die denken, denn die Reisegruppe ist verschwunden, samt meinem Koffer und der Jacke. Am Ausgang winkt B.; ich laufe hinterher und springe in den Bus, wo der Guide mit meiner Jacke und dem Koffer auf mich wartet.

Auf geht‘s durch Kairo. Es herrscht Feierabendverkehr; die Strassen, eingerahmt von sandfarbenen Wolkenkratzern, sind voll von hupenden Autos. Zwischen den Hochhäusern tauchen prächtige – und heruntergekommene – Paläste auf, die von verwucherten Palmengärten umgeben sind. Baustellen und Reste abgerissener Häuser vervollständigen das Bild, das einem lauten, wilden Wirrwarr gleicht. Wir fahren an der Swimming Academy vorbei, an Moscheen und da, da ist der Nil, umrahmt von Palmen, die sich schwarz vor der untergehenden Sonne abheben.

Vorletzte Nacht bin ich um 2.30h eingeschlafen. Letzte Nacht bin ich um 4.20h aufgestanden. Und morgen geht es Punkt 8.00h zu den Pyramiden, verkündet Muhammad Ali, unser Guide. Auf in den Kampf, heisst das dann wohl!

Prolog

02.10.2022

Ich liege im Bett. Die goldgelben Vorhänge sind geschlossen und lassen einem die Illusion, dass die Sonne den Raum erhellt. Sehen tue ich das nicht, denn ich habe die Augen geschlossen. Und die Sonne scheint auch nicht, denn ich höre den Regen gegen die Fenster prasseln. Ich höre das Klappern der Töpfe und Pfannen aus dem Feinkostladen schräg unter mir, wo der Mittagstisch vorbereitet wird. Und ich höre das Kreischen einer Möwe. Ich rieche die frische Luft, die durch das geöffnete Fenster kommt. Ich rieche den leichten Geruch deines Parfüms in der Decke. Ich finde es faszinierend, wie die anderen Sinnesorgane die Oberhand gewinnen während die Augen geschlossen sind.

Die Augen halte ich geschlossen: ein Loch in der Netzhaut (und das ist ein Notfall) des rechten Auges wurde umgehend gelasert, und damit bin ich drei Tage krankgeschrieben, darf weder lesen (und somit auch nicht arbeiten) und sporten, und überhaupt die Augen nicht belasten.

Ein Hörbuch besitze ich, und so lasse ich mich über sechs Stunden in den Bann von Bram Stoker’s Dracula ziehen, sehe vor meinem inneren Auge die Kutsche, die vor dem Schloss hält, höre die Wölfe heulen, die unheimliche Stimme des Schlossherrn, der nachts kopfüber hängend die Mauern hinabklettert, Lucys Stimme, angsterfüllt, das Schiff mit dem toten Kapitän ans Steuer gefesselt, das Kruzifix in der Hand.

So wie ich quasi von einem auf den anderen Tag von 80 Prozent Schwerbehinderung auf 0 Prozent und damit als gesund deklariert wurde, so schnell werde ich nach dem Nachlasern am Freitag und weiteren Ruhestunden wieder von 0 Prozent auf 100 Prozent umschwenken. Das Abenteuer ruft. Morgen früh werde ich nach Kairo aufbrechen.

14.09.2022

Angst oder keine Angst?

„Ich habe vergessen, Angst zu haben“. Mein Gegenüber lacht mich etwas überrascht an. Er, der Höhenangst hat und es hasst, über die schmale Brücke zu gehen, die zu meinem Haus führt, hat die Hürde gemeistert, ohne an sie zu denken. Vielleicht hat er einfach daran gedacht, dass gleich ein schönes Dinner ansteht.

Ich packe meine Schwimmtasche und überlege, wann ich wohl im Aussenbecken des öffentlichen Bades eintreffen werde. Zwischen dem Packen und dem Aussenbecken muss ich zur Nachsorge in mein kleines Krankenhaus. Erst in die Radiologie zum Ultraschall und zur Mammographie, dann zu meiner neuen Ärztin, da meine jetzige in den Ruhestand gegangen ist. Ich habe keine Angst vor den Terminen. Es gibt auch keinen Grund dafür.

„BIs nächstes Jahr“, sagt die Radiologin. Alles ist gut. Ich fahre in den vierten Stock – unterdrücke aufkommende Tränen der Dankbarkeit – und lerne meine neue Ärztin kennen. Sympathisch ist sie und sehr kompetent, das stelle ich in unserem ausführlichen Gespräch fest. Es klopft an der Tür, „mein“ Lebensretter/Chirurg/Onkologe kommt herein. Jetzt möchte er aber unbedingt „seine“ Patientin begrüssen, die er schon im Wartezimmer gesehen habe! Und mir ausserdem sagen, wie sehr er sich über meine Postkarte gefreut habe, die ich ihm im März zu meinem fünften Jahrestag gesendet habe. Das käme nicht oft vor. Und er finde es toll, dass ich – die er als sehr strukturiert kennengelernt hat – so einiges in ihrem Leben geändert hat. Ich freue mich sehr über diese warmherzige Begrüssung und auch über meine neue Ärztin, die sagt, dass ich immer kommen könne, wenn etwas sei.

Angst ist ok, solange sie punktuell/zeitlich begrenzt und begründet ist. Dann ist Angst ein natürlicher Helfer, der das Bewusstsein schärft und einen aktiv werden lässt. Wenn ich z.B. im Arztbrief aus der Nuklearmedizin die Worte „maligne, abklärungsbedürftig, cancerguideline“ lese. Oder wenn ich Schmerzen im Knie habe oder in der Achselhöhle. Was tue ich bei solchen Ängsten: ich setze mich hin. Ich atme tief ein und aus. Ich überlege mir Lösungen: die Nuklearmedizin im großen Krankenhaus anrufen und sich den Arztbrief erklären lassen. Zum Radiologen gehen um das Knie unter die Lupe zu nehmen. Die schmerzende Achsel per Ultraschall untersuchen lassen.

Angst ist dann nicht mehr gesund, wenn sie permanent da ist und den Körper und die Seele stresst. Mein teils unerforschter Gendefekt, von dem ich fast sicher bin, dass er an meinem beidseitigen Brustkrebs schuld ist, könnte mir permanent Angst machen. Das lasse ich allerdings nicht zu. Ich ignoriere diesen Defekt nicht, kann ihn aber weder ändern noch die Forschung beschleunigen. Ich erwähne ihn (wie heute im Gespräch mit der neuen Ärztin), aber packe das Thema wieder in ein Kästchen ganz hinten in den Kopf. Permanente Angst macht keinen Sinn. Sie nimmt nur Lebensqualität und schadet der Gesundheit mehr als der Gendefekt an sich.

„Ich habe vergessen, Angst zu haben“, sagt mein Gegenüber und freut sich.

Ich freue mich auch.

28.08.2022

Über die Dankbarkeit.

Es ist Freitag, ich greife mein Handy und den Haustürschlüssel und laufe vor die Haustür. Keine Zeit, mich umzuziehen; in kurzer Jogginghose, Shirt und Flipflops renne ich auf die andere Strassenseite. Weiter kann ich nicht rennen, denn jede Minute könnte mein Rewe-Lieferservice eintreffen, und den muss ich im Auge behalten. Menschenmassen sitzen, stehen und winken, fangen an zu klatschen, als das kleine Boot in den Sandtorhafen einbiegt. Fettes Brot, die Hamburger Kultband, die in den letzten Jahren nicht aktiv war, hat heute Mittag bekanntgegeben, dass sie entlang der Elbe Überraschungskonzerte spielen wird; eines davon direkt vor meiner Haustür. Ich freue mich und bin dankbar, dass ich diesen spektakulären Auftritt miterleben darf. Ein Freund kommt um die Ecke, auch er begeistert, die wogende Menge singt mit. Drei Anrufe mit unbekannter Rufnummer lehne ich ab, bevor ich doch rangehe: der Rewe-Lieferservice sitzt in meinem Treppenhaus. Ich sprinte zurück, entschuldige mich und bin dankbar, dass er nicht mitsamt meines Wocheneinkaufs von dannen gezogen ist. Ich packe aus, laufe zurück auf die andere Strassenseite, klatsche noch etwas mit, winke der Band zu, die unter Dankesrufen langsam aus dem Sandtorhafen schippert.

Am Samstag bin ich in Berlin. Ich bin dankbar, dass ich an dem Event der Mammomädels teilnehmen kann, die die Kampagne zum Brustkrebsmonat Oktober präsentieren, der wir ein Gesicht geben werden. Es wird eine tolle Kampagne werden, ich freue mich und habe beim Fotoshooting recht schnell „mein Foto“. Heidi würde zufrieden sein. Wir lachen, führen tolle Gespräche, nippen an unseren alkoholfreien Drinks, unser Blick schweift über die Dächer von Kreuzberg.

Tibet 2018, sagt die Frau, die ich auf dem Nachhauseweg an der Elbe treffe, ich halte an und strahle, na klar, es ist eine ehemalige Mitreisende, die mit mir im Basecamp des Everest war. Wir unterhalten uns, bis die Sonne untergeht.

Im Aussenbecken des öffentlichen Bades sind am Sonntagmorgen nur zwei Mitschwimmer auszumachen. Der Himmel ist blau, die Sonne strahlt, der Bademeister fragt, ob er mich etwas fragen dürfe, wir kennen uns ja, ich würde hier fast täglich schwimmen, aber ehrlich soll die Antwort sein: sitzt sein Shirt gut oder sehe er aus wie eine Presswurst? Sensationell, antworte ich, und meine es ehrlich. A. kommt mir entgegengeschwommen, als ich gerade das Becken verlassen will, ich hänge noch zwei Bahnen dran, um mir von ihrer Wienreise erzählen zu lassen, bevor ich mich mitsamt meinem Frühstück auf meinen Lieblingsplatz am großen Becken niederlasse. Was für ein schöner Morgen.

Ein Mensch stirbt. Ich kenne Dich nicht persönlich, wir haben uns ab und an geschrieben, und ich war immer beeindruckt von Dir, mit wieviel Würde Du Deiner unheilbaren Krebserkrankung begegnet bist. Immer nach vorne blickend, nie klagend, immer einen schönen Tag wünschend. Ich merke, wie mir die Tränen kommen. Und doch bin ich dankbar für diese virtuelle Bekanntschaft. Und für jeden Moment.

29.07.2022

Unterwegs.

Ein weiterer Anker hat sich gelichtet, denke ich, während ich meine Bahnen durch das Becken des öffentlichen Bades ziehe. Der Himmel ist grau, im Gras sitzen zwei Krähen und krächzen.

„Von Amts wegen ergeht folgende Entscheidung“; so beginnt das zweiseitige Schreiben der Behörde für Gesundheit. Die zwei Seiten kann ich in einem Satz zusammenfassen, und das auch noch verständlicher als es das komplizierte Behördendeutsch ist: mein Behindertenausweis ist ab sofort ungültig und wird eingezogen. Von 80 Prozent Schwerbehinderung auf 0 Prozent, von einem Tag auf den anderen bin ich also vom Amt für gesund erklärt worden.

Das muss ich reflektieren, genauso wie die Sonne, die sich jetzt hervorwagt, und sich im Blau des kühlen Wassers spiegelt. Seit März 2022 gelte ich (nach meiner Zeitrechnung) als geheilt, ab sofort nun auch als gesund.

Fakt ist: ich habe mich bereits am Tag der Operation, an dem beidseitig die Krebstumore entfernt wurden, für gesund erklärt. Diese Einstellung hat mir geholfen, positiv nach vorn zu gucken und nicht in eine Schockstarre zu verfallen, verängstigt, dass der Krebs zurückkommen könnte. Das kann er. Aber genau da setze ich an und bin aktiv (und diszipliniert), um das Risiko zu reduzieren. Es geht mir gut mit dieser Einstellung. Dass ich andere gesundheitliche Herausforderungen habe, liegt nicht am Krebs, und einen Behindertenausweis hatte ich schon einmal empört abgelehnt. Auch damals habe ich mich als gesund erklärt, auch wenn ich es im Rückblick nicht gewesen bin.

Der Behindertenausweis, den ich noch drei Monate weiter führen darf, bevor ich ihn zurückgeben muss (so ich dieses komplizierte Schreiben richtig deute), war ein Anker. Er steckte sichtbar in meinem Portemonnaie und erinnerte mich täglich daran, inne zu halten. Einen Schritt langsamer zu gehen. Ein Anker, der mich darauf aufmerksam machte, auf meine innere Stimme zu hören: wie geht es Dir?, fragt mich die Stimme, ich schaue mich an, überlege, beantworte die Frage mit Bedacht und justiere meine Richtung, wenn es nötig ist. Das ist gut, und das ist richtig.

Dieser Anker hat sich nun gelichtet. Und ich, ich bin wieder ein Stück freier und schwimme gelassen der Sonne entgegen.

11.07.2022

Unterwegs.

„Wir haben hier fünf Etagen“, sagt der freundliche Mitarbeiter an der Rezeption und zeigt auf eine Wendeltreppe. Ich schaue entsetzt, denn ich bin Orientierungslegastheniker. Das erste Mal in meinem Leben ging ich mit vier Jahren im Urlaub in Bulgarien verloren und musste von der Polizei gesucht werden. Auch in Dänemark bin ich schon abhanden- und nicht am Zielbahnhof angekommen, auch hier wurde die Polizei eingeschaltet (da war ich keine vier sondern volljährig).

Die große Schwester meines schicken Spas, das ich heute für einen Kosmetiktermin aufsuche, ist prädestiniert für mich, sozusagen ein Labyrinth on surprise. „Ich bin Orientierungslegastheniker“, sage ich zum Rezeptionisten, ohne weiter auszuholen, er hat mein entsetztes Gesicht korrekt gedeutet, lächelt freundlich und beschliesst, mich zur Damenumkleide zu bringen und mir die Wege zur Kosmetik und zum Pool direkt zu zeigen. Das finde ich sehr aufmerksam. Die Damenumkleide ist riesig: während ich in „meinem“ Spa den Spind Nummer 1 nutze, laufe ich hier von einem Raum in den nächsten, vorbei an Spind Nummer 167, 220, 300…die große Schwester meines kleinen Spas ist wirklich groß. Hauptsache, ich finde die Toiletten, denke ich. Und meinen Spind auf dem Rückweg, dessen Nummer ich vorsichtshalber in mein Handy tippe.

Ich mache mich auf den Weg Richtung Saunabereich, wo ist eigentlich der große Pool (eine Wendeltreppe tiefer) und wo die Tür, die mich wieder Richtung Kosmetikbereich bringen soll (am Ende der drölfzig kleinen Becken und Saunen), auch hier erbarmt sich ein Mitarbeiter und bringt mich in den von mir gewünschten Bereich.

Ich bin gestresst. Das ist ungefähr das, was man nicht erwartet, wenn man seinen freien Tag in einem schicken Spa verbringt. Im Kosmetikbereich erwartet mich die übliche meditative Musik mit Gongtönen. Angenehm ist die Stunde, denn wirklich zu reinigen gibt es in meinem Gesicht nichts, also keine Qual sondern Masken und Massagen.

Ich vergesse nicht zu fragen, wo es Richtung Umkleiden geht, denn schwimmen möchte ich hier auch. Ich finde meinen Spind, ziehe meine Badesachen an, gehe zu den Duschen, finde die Tür zum Saunenbereich und sogar die Wendeltreppe, die Richtung großen Pool führt, und bin jetzt doch ein bisschen stolz, das ich es so weit geschafft habe. Ich ziehe meine Bahnen, dort drüben zanken sich zwei Männer, dahinten liegt einer längs auf einem Sofa, ein Pärchen knutscht im Pool, und eine schlecht schönheitsoperierte und gebotoxte Mitstreiterin aus meinem kleinen Spa, das diese Woche den Schwimmbereich wartet, ist hier auch zugegen.

Schick ist es hier, wenn auch viel zu groß, denke ich, aber hier haben sie wirklich alles. Ich schaue mich suchend um. Alles? Nicht ganz alles. Den Swimsuit Dryer, den ich letzte Woche in meinem kleinen Spa entdeckt habe, den gibt es hier nicht. Und den, den finde ich zielstrebig wieder, auf meinem Weg, in meinem Spa.

Epilog

Warum ich das Reisen mag.

Vielleicht, weil ich die Kälte mag. Und die Wärme.

Vielleicht, weil ich das Rot und das Gelb der Wüsten mag. Und die Weiss- und Blautöne im ewigen Eis.

Vielleicht, weil ich den Blick in die Ferne schweifen lassen mag, über das Meer. Um dann vor mir auf den Boden zu blicken und Blumen zu entdecken, winzig klein.

Vielleicht, weil ich die Vögel singen hören mag, ganz früh am Morgen. Und das Knistern des schmelzenden Eises im Nordpolarmeer, das mag ich auch.

Vielleicht, weil ich Fernweh hab. Und ich die Welt so spannend finde.

Vielleicht, weil ich die Menschen mag, die ich von jeder Reise mitbringe. Und die Veränderungen meiner selbst. Die Erinnerungen, die ich mir bewahren werde, die mag ich auch.

Und vielleicht, weil mich die Intensität der Erlebnisse die Zeit länger erscheinen lässt.

Vielleicht, weil ich dann glücklich bin.

Logbuch Svalbard Tag 11

09.06.2022

Punkt 7.30h Email von T. an unsere Tischrunde, das den morgendlichen Weckruf des Schiffs auf humorvolle Weise interpretiert. Für den recap würde ein baby seal Video gesucht 😉 Ich teile es sofort und bin jetzt gutgelaunt.

Dann laufe ich ins Dorf, um in letzter Minute den Svalbard-Hoodie zu kaufen, um den ich schon mehrmals drumrum geschlichen bin.

Am Flughafen in Longyearbyen dann Chaos. Hier ist überall self-service, also kann ich niemanden fragen, ob ich in Tromso nicht ohne Umsteigen und Wartezeit weiter nach Oslo fliegen kann.

Der Tromso Airport ist eine Baustelle: erstmal Passkontrolle, dann Gepäck holen, in nen Bus und ab zum nächsten Terminal. Hier wieder Gepäck einchecken (diesmal geht es nur mit Hilfe) und wieder durch die Kontrolle. Ich frage mich, in wievielen Ländern ich gelandet bin; ich wähnte mich eigentlich nur in Norwegen.

Im Oslo Airport laufe ich erstmal durch einen Ausgang, den ich nicht als solchen identifiziert habe und muss mich dann auf illegalem Weg wieder zurückmanövrieren, um an mein Gepäck zu kommen. Auf dem Weg zum Hotel umwandere ich – nun mit Gepäck – den Flughafen, warte eine kleine Ewigkeit beim Check In obwohl mehr Staff als Gäste zugegen sind, überliste die laute und nicht auszustellende Klimaanlage, in dem ich das Fenster aufmache, um dann um 23.45h einen Anruf von der Rezeption zu bekommen, die meinen Namen nochmal rückbestätigen möchte. Es ist Zeit, nachhause zu kommen.

Logbuch Svalbard Tag 10

08.06.2022

„Can I watch the video of the baby seal a last time?“ fragt einer der holländischen Forscher. Alle lachen. Die Reisegruppe steigt in den Bus, der sie zum Flughafen bringen wird. Ich bleibe mit meinem baby seal Video zurück, da meine Flüge erst einen Tag später gehen. „Ich sende Euch allen das Video per email“, antworte ich, wir umarmen uns und nehmen Abschied.

Eben sass ich noch mit D. bei Chai-Tee und einem schönen Gespräch im kleinen Polarmuseum, nun bin ich allein. Ich werde etwas wehmütig, schlendere unschlüssig durch Longyearbyen, schaue in die Geschäfte ohne etwas zu finden, kaufe im Koop schliesslich Bananen und Knäckebrot und trinke einen Cappuccino auf der Terrasse eines Cafés. Draussen vorm Hotel weiden zwei Rentiere.

Logbuch Svalbard Tag 9

06.06.2022

7.40h. Ich sitze in der Bar. Die Musiker sind längst auf ihren Kabinen, der Tresen aufgeräumt, die Tische geputzt, die Sessel wieder ordentlich arrangiert.

Die Sonne streift über die Lehnen, den blaugemusterten Teppich und über die Berge. Heute Morgen werden wir mit den Zodiacs in Skansbukta anlanden und schauen, ob wir Puffins entdecken.

Keine Puffins in Skansbukta, dafür Steinschlag und ein Schneehuhn.

Die Sichtung des Schneehuhns, der Eisbären und die meisten Wale haben wir übrigens der Aufmerksamkeit unserer holländischen Forscher zu verdanken, die stundenlang an Deck ausharren. Ich revanchiere mich mit dem Video des Seehundbabies, das ich jedem enthusiastisch unter die Nase bzw. die Augen halte, gerne auch öfters.

In Borebukta werde ich richtig nass, ich sitze ganz vorn im Zodiac, die Wellen perlen von meinem Arktisoutfit ab. Es ist windig. Und kalt. Wir sehen noch eine Gruppe Walrosse , mich interessiert aber mehr eine heisse Dusche.

Die undefinierbare grün-pink-farbene Masse, die mit einem weissen Rand umsäumt ist, wurde als Alaska-Erdbeervariation angekündigt. „Schmeckt wie Marshmallows“, meint S. „Sieht aus wie Permafrost“, findet A. Wir haben hier einiges gelernt. Auch das man manchmal mit dem frischen Obst-Teller als Dessert doch besser beraten is(s)t.

Logbuch Svalbard Tag 9

07.06.2022

7.40h. Ich sitze in der Bar. Die Musiker sind längst auf ihren Kabinen, der Tresen aufgeräumt, die Tische geputzt, die Sessel wieder ordentlich arrangiert.

Die Sonne streift über die Lehnen, den blaugemusterten Teppich und über die Berge. Heute Morgen werden wir mit den Zodiacs in Skansbukta anlanden und schauen, ob wir Puffins entdecken.

Keine Puffins in Skansbukta, dafür Steinschlag und ein Schneehuhn.

Die Sichtung des Schneehuhns, der Eisbären und die meisten Wale haben wir übrigens der Aufmerksamkeit unserer holländischen Forscher zu verdanken, die stundenlang an Deck ausharren. Ich revanchiere mich mit dem Video des Seehundbabies, das ich jedem enthusiastisch unter die Nase bzw. die Augen halte, gerne auch öfters.

In Borebukta werde ich richtig nass, ich sitze ganz vorn im Zodiac, die Wellen perlen von meinem Arktisoutfit ab. Es ist windig. Und kalt. Wir sehen noch eine Gruppe Walrosse , mich interessiert aber mehr eine heisse Dusche.

Die undefinierbare grün-pink-farbene Masse, die mit einem weissen Rand umsäumt ist, wurde als Alaska-Erdbeervariation angekündigt. „Schmeckt wie Marshmallows“, meint S. „Sieht aus wie Permafrost“, findet A. Wir haben hier einiges gelernt. Auch das man manchmal mit dem frischen Obst-Teller als Dessert doch besser beraten is(s)t.

Logbuch Svalbard Tag 8

05.06.2022

Poolepynten.

Wir pirschen uns ganz leise an die Walrosse heran. Keinesfalls wollen wir sie stören oder erschrecken.

Da Walrosse extrem stinken, habe ich einen extra Tropfen Minzöl in meine Maske getan und atme durch den Mund. Mit Gestank kann ich nur schlecht umgehen. Fast eine Stunde beobachten wir die Gruppe männlicher Jungtiere, die am Strand herumliegen oder im Meer schwimmen, ihre Köpfe heben und grummelige Geräusche machen.

Im St. Johnsfjord sind wir wieder in Zodiacs unterwegs. Gletscher reihen sich aneinander, dazwischen schneebedeckte Berge, die sich in der glatten Wasseroberfläche spiegeln. Ein Seehundbaby taucht direkt vor mir auf und kommt neugierig näher. Ich filme die Szene. Und bin glücklich.

Abends BBQ auf Deck 5, wir sitzen in Skihosen und dicken Jacken um schön gedeckte Tische, wir Nordlichter lachen zusammen mit den holländischen Forschern.

Ich liege im Bett und höre Gesang, Lachen und Applaus. In der Bar nebenan ist Party. Ein Israeli hat seine Ukulele dabei, einer der Forscher spielt Gitarre, und jemand spielt Klavier.

Auch wenn ich schon im Bett liege, freue ich mich über die Lebendigkeit, die aus der Bar klingt.

Logbuch Svalbard Tag 7

04.06.2022

Ich ziehe meine Jacke über und laufe an Deck. Ein Grönlandwal wurde gesichtet; allerdings macht er mir nicht die Freude, noch einmal aufzutauchen (ich werde am Ende dieser Reise die wahrscheinlich Einzige bleiben, die weder Blauwal, Grönlandwal oder Zwergwale gesehen hat).

Statt Landgang entscheide ich mich für Gym und Jacuzzi.

Auch den Nachmittag vertrödele ich an Bord.

Beim Dinner geht es bei den Israelis mit den Festivitäten weiter. Wir haben diesmal Glück und bekommen Hummus, Yoghurtsauce und süsses Brot gereicht.

Logbuch Svalbard Tag 6

03.06.2022

Lillihoekbreen. Kalte, klare Luft. Gewaltige Gletscher. Berge, von Wolken umschleiert. Unendlich viele Blautöne. Verschneite, unberührte Täler. Knisterndes Meer, in dem man die Eisschollen schmelzen hört. Auffliegende Vögel. Wir, ganz klein im Zodiac.

Camp Zoe am Nachmittag: ich bin wieder bei den Beachbunnies: heute lernen wir etwas über Algen und Federn, interpretieren Einbuchtungen am steinigen Strand und beobachten den lila Strandläufer.

„Wir brauchen Militär“, sagen die Israelis. „Wir brauchen Demokratie“, sagen die Holländer. “Wir brauchen Leader“, sage ich, und ernenne T. kurzerhand zur Prime Ministerin und mich zur Queen. „Und was machen wir mit denen, die wir nicht brauchen?,“ fragt A. „Die schicken wir los, Hilfe holen“. Wir sitzen beim Dinner gehen gerade das Szenario was-wäre-wenn-wir-mit-diesem-Schiff-verschollen-gehen-und-überleben-wollen durch. Schwarzen Humor können wir.

Heute ist Shabatt; die beiden Isralis, die an unserem Tisch beim Dinner sitzen, werden von ihren Landesgenossen zu Wein und Gesang gebeten; vorher spricht der Älteste; wir hören interessiert zu. „Bless you all“, sagen die beiden, als sie wieder bei uns Platz nehmen; ihnen ist das ganze sichtlich unangenehm, sie sind nicht sonderlich religiös.

Karaoke im Jakuzzi mit den israelischen Jungs oder Whalewatching mit den holländischen Forschern? Wir deutschen Nordlichter entscheiden uns für die Ausschau nach Leben im Meer.

Logbuch Svalbard Tag 5

02.06.2022

Ice Edge, 80 Grad Nord.

Das Meer ist ruhig, das Wasser gleicht einer metallischen Oberfläche, die sich behäbig auf und ab bewegt. Die Eisschollen verdichten sich. Es ist kalt. Wir sind am Ice Edge angekommen.

Gestern Abend hatten wir einen lustigen Abend an der Bar; meine Freunde aus Hannover entdecke ich um 8.00h noch nicht an der frischen Luft, aber die holländischen Forscher sind schon auf Deck 4 aktiv. Auf Deck 5 stellen sich die Israelis für ein Gruppenfoto auf. Ich wandere umher und schaue aufs Meer, ob ich irgendwo Wale ausmachen kann. Wir sind jetzt geografisch dort, wo am Globus oben die kleine runde Metallkappe sitzt.

Nachmittags steht die Welt kopf. Im Raudfjorden spiegeln sich Wolken und schneebedeckte Berge im glasklaren Meer; wo unten und wo oben ist, das weiss man hier nicht so genau.

Stundenlang sitzen wir still in unseren Zodiacs und beobachten Eisbären.

Abendessen in fröhlicher Runde mit den Hannoveranern und den holländischen Forschern, danach geht es an Deck 5 in den Jakuzzi. Es ist 21.00h. Die Sonne scheint auf schneebedeckte Berge, während wir im Hot Tub mit Weisswein anstossen. Das Leben ist schön.

Logbuch Svalbard Tag 4

01.06.2022

„Ich habe einen Anzug dabei“, sagt H., ein deutscher Guide. „Für den Welcome-Abend!“ „Dann sind wir ein Match“, antworte ich. Ich habe ein Kleid im Gepäck. Auf Expeditionen ist das eher ungewöhnlich.

Mit Ny Ålesund besuchen wir die letzte Location mit menschlichem Leben: hier wohnen Forscher aus aller Welt; circa 80 Bewohner im Winter und 250-500 Bewohner gibt es in der Sommerzeit. Hier befindet sich auch der nördlichste Briefkasten der Welt; den südlichsten (Port Lockroy/Antarktis) und den höchsten (Everest/Tibet) habe ich ja schon gesehen.

Im Ossiansarsfjellet landen wir in Zodiacs an. Ich habe mich für die Beachtour entschieden. Ich ziehe das Innehalten und ruhige Beobachten der Natur den Hikingtouren vor (man könnte auch sagen: ich bin faul).

Wir lauschen einer singenden Schneeammer. Wir sehen eine brütende Kolonie von Dreizehenmöwen. Wir finden die Schlafplätze der Rentiere und lernen zu interpretieren, wie sie schlafen. Wir entdecken ein abgenagtes Skelett und Geweih eines alten Rentieres, das von einem Eisbären gefressen wurde. Wir freuen uns über kleine lila Blümchen, die sich ihren Weg durch Matsch und Eis bahnen. Wir lernen zu verstehen, wie alles hier zusammenhängt und eine Symbiose eingeht.

Man muss nur stehenbleiben und findet die faszinierende Welt direkt vor den Füssen.

Logbuch Svalbard Tag 3

31.05.2022

Im örtlichen Museum in Longyearbyen packt ein älterer deutscher Mitreisender seinen Laptop aus. „Ich zeige Ihnen jetzt meine Fotos von der Besteigung des Kilimanscharos“, verkündet er. Ich bin irritiert, lasse es mir aber nicht anmerken und lausche zwischen ausgestopften Eisbären und Polarfüchsen geduldig seinen Afrika-Geschichten.

„Das war 2010“, sagt T., der ich nachher von dieser skurillen Begegnung berichte. Auch sie hat schon Bekanntschaft mit dem Bezwinger des Kilimanscharos und seinen Fotos gemacht.

Der PCR-Test ist lax, trotzdem werden zwei Mitreisende positiv getestet. Beim Dinner später an Bord klagt die Italienerin an meinem Tisch über Heiserkeit und Halskratzen. Das fängt ja gut an.

Überhaupt wird es nochmal turbulent; angeblich ist eine Teilüberweisung von mir nicht beim Veranstalter eingetroffen, ich überweise ein zweites Mal (und verpasse dadurch die Sightseeingtour), da ich nicht möchte, dass die Drohung, nicht aufs Schiff gelassen zu werden, wahr gemacht wird. Das Thema werde ich zuhause aufarbeiten.

Beim Einchecken entspanne ich mich wieder: ich habe ein upgrade bekommen und damit eine wunderschöne Kabine samt begehbarem Kleiderschrank für mich allein.

Logbuch Svalbard Tag 2

30.05.2022

Where are you from? India! Italy! USA! Germany! Japan! Unsere Hundeschlittenwagentour, die ich mit fünf meiner internationalen Mitreisenden machen werde, ist bunt gemischt; unser Guide fügt sich gut ein, er kommt aus Dänemark.

Zwölf Hunde, eine Mischung aus Huskies und Grönlandhunden, werden angespannt, ruckeln aufgeregt an ihrem Geschirr, springen durcheinander und bellen aufgeregt. Sie können es kaum erwarten, dass es losgeht. Wir auch nicht. Es geht los; sofort verstummt das Gebell, die Hunde laufen gleichmässig und konzentriert. Rechts das Meer, links der kleine Flughafen (davor der Zeltplatz mit drei Zelten, auf dem 2020 ein Mann einem Eisbären zum Opfer fiel) und um uns herum die schneebedeckten Berge. Regelmässig wird Pause gemacht, damit die Hunde trinken können. Ob man die streicheln könne? Na klar, sagt der Guide, die Hunde freuen sich!

Der Fahrtwind weht uns eisig um die Ohren. Die Japanerin schlägt die Hände vors Gesicht und kichert, als ich einen Witz mache, die Inder schlagen ihre Hände vors Gesicht, weil sie frieren. Arktische Temperaturen sind sie nicht gewohnt.

Heute Vormittag haben wir auch schon gefröstelt, als es bei Minus 2-Grad durch die dunklen Stollen eines verlassenen Bergwerks ging. Dort befindet sich hinter einer schweren Eisentür das Arctic World Archive, in dem auf Mikrofilmen Dokumente für die Nachwelt aufbewahrt werden.

Das Abendprogramm – ein Dinner im Bergwerk – schwänze ich und nehme eine lange heisse Dusche.

Funfact: Dank meiner professionellen Arktis-Jacke des Veranstalters werde ich permanent für den Guide gehalten: beraten über Antarktisreisen kann ich sehr gut. Die Frage, ob man seine Sachen im Bus lassen kann, beantworte ich lieber nicht.

Logbuch Svalbard Tag 1

29.05.02022

„Wie gut spricht die Anja denn englisch?“ fragt mich die Dame bei der Einweisung für die nächsten beiden Reisetage. Die Anja antwortet: „sehr gut“. Und meldet sich als Freiwillige für die internationale Gruppe. Positiver Nebeneffekt: die Internationalen starten nicht wie die Deutschen morgens um 7.00h mit dem Programm, sondern können entspannt frühstücken, um dann um 10.00h das Bergwerk zu besichtigen, erst nachmittags wird es mit den Hundeschlitten in die Natur gehen. I like.

Die Mittagszeit habe ich im strahlenden Sonnenschein mit S. und M., einem sympathischen Paar aus Scharbeutz, verbracht. Wir haben uns gestern bereits zufällig auf dem Flughafen in Kopenhagen kennen gelernt und sind alle drei einen Tag früher angereist. Wir Nordlichter verstehen uns sehr gut und tauschen unsere Antarktiserfahrungen samt Pinguinbilder aus.

Nachmittags bummele ich durch die drei Strassen, die es hier gibt. S. und M. haben sich eine Tour mit dem Katamaran organisiert, ich muss heute irgendwo eine Pinzette auftreiben. Erschwerend kommt hinzu, dass es hier nicht nur nur drei Strassen gibt, es ist auch Sonntag. Challenge accepted.

Im rappelvollen Dorfcafé, in dem sich anscheinend alle Einwohner versammelt haben, bestelle ich mir einen Cappucino und ein veganes Stück Schokokuchen. Und erblicke an einem Tisch die Frau, die gestern auf dem Flug von Oslo nach Longyearbyen neben mir gesessen hat. Sie lacht mir zu. Ich setze mich zu ihr. Die Norwegerin ist wie ich das erste Mal auf Svalbard; allerdings ist sie geschäftlich unterwegs; sie wird morgen einen Vortrag über den Tourismus halten. Wir unterhalten uns über das Reisen, interkulturelle Begegnungen, sie erzählt von ihrem Bruder, der Botschafter in Brasilien ist, wir sprechen über Russland und der ägyptischen Haltung zur Situation und noch viel mehr.

Fühlte ich mich heute Morgen noch etwas mulmig, als ich durch die menschenleere (und zum Glück eisbärenfreie) Gegend gewandert bin, bin ich nun in meinem Element und socialise.

Ich finde sogar einen Supermarkt, der geöffnet hat. Samt Pinzette.

Und nun: auf ins Outdoor-Jakuzzi!

Prolog.

28.05.2022


Die Sonne geht nicht auf. Die Sonne geht nicht unter. Sie steht am Himmel und tut das, was sie am besten kann: sie taucht die schneebedeckten Berge, die unter uns liegen, in prächtiges Licht. Sie erweckt die bunten Holzhütten in Svalbard zum Leben. Sie lässt das Nordpolarmeer glitzern , meine Augen zusammenkneifen und meine Haare glänzen. Sie strahlt auf diese unwirkliche Szenerie, in der ich gerade gelandet bin. Ich mag die Sonne, die hier Tag und Nacht für uns scheinen wird.

24.05.2022

Pre-Prolog.

Ob ich glücklich sei, fragt sie mich, nachdem ich ihr erzählt habe, wie ich lebe, und schaut mich erwartungsvoll an. Wir sitzen hoch oben auf dem Holzboden einer Baumhütte, es ist der einzige Raum, den es hier gibt. Vor mir eine Tasse mit Tee, hinten an der Wand der Schrein mit Buddha und den Nats, das sind Naturgeister, an die man in Burma glaubt. Strom und fliessend Wasser gibt es nicht, genauso wenig wie Badezimmer oder Küche; hier wird für alles der kleine Bach genutzt. Ob sie glücklich sei, frage ich meine Gastgeberin. Sie strahlt und bejaht. Sie habe Kinder, die sie besuchen kommen und sie habe ein Zuhause.

Mittagshitze. Die Sonne scheint unbarmherzig auf uns hinab. Mein Guide marschiert stundenlang mit mir durch Reisfelder, wohin genau, das wird sich zeigen. Die Wanderung endet vor einigen runden Strohhütten, auf deren Dächern dünne Fladenbrote getrocknet werden. Wir kriechen in eine Hütte hinein, wo eine Frau auf dem sandigen Boden vor einem Feuer sitzt und backt. In Nullkommanix tauchen die anderen Dorfbewohner auf und starren mich an. Fremde wie mich kennt man hier nicht.

Die kleinen Jungs in Thanliyn umzingeln mich und halten ihre dunklen Ärmchen neben meinen, der so viel heller ist: Farbabgleich. Aufgeregt wird diskutiert. Im Waisenhaus freut man sich über die willkommene Abwechslung. Beim Essen, es gibt Reis mit Gemüse, bin ich die einzige, die ein Besteck bekommt; traditionell wird mit den Fingern gegessen.

Die Nacht beim Goldenen Felsen im Mon-Staat, in der ich kein Auge zugemacht habe; Ameisen, Motten und Lizzards frequentierten mein Zimmer, um 4.00 Uhr im Morgengrauen folgten Lautsprecherdurchsagen der Mönche. Du hattest Lizzards im Zimmer?, strahlt meine Begleiterin. Die bringen Glück!

Die Palästinenserin im Westjordanland erzählt uns die Geschichte ihres Olivenhains, in dem eines Tages die Israelis mit Baggern stehen, um eine Mauer zu bauen. Nach dem Mittagessen, das wir in in ihrem Esszimmer eingenommen haben, fahren wir in den Garten und stehen an der Mauer, hinter der sich eine israelische Siedlung erhebt. Wir pflanzen gemeinsam einen neuen Olivenbaum.

Ich erinnere mich an den Ritt durch die Anden, durch Rinderherden hindurch und über kleine Pfade an Abhängen entlang, auf die mein Pferd – Manteca – sicher seine Hufe setzt. Später lande ich im Graben, über den mein Pferd nicht springen will.

Ich mag Begegnungen in der Ferne, ich mag es, mich auf überraschende und mir unbekannte Situationen einzustellen, mich treiben zu lassen und neugierig zu schauen, was passiert.

Und ich mag die Farben und die Töne in der Ferne: den unendlichen Wüstensand, gelb in der Sahara und rot in Wadi Rum, erwachende Geysire in der Atacama-Wüste, die funkelnden Blautöne im Süd- und im Nordpolarmeer, das Kalben der Gletscher, die mit dumpfen Krachen ins Meer kippen. Die Wolke, die sich langsam zur Seite schiebt und den Blick auf den Everest freigibt, hoch oben im Basecamp auf 5.200 Metern. Die laut krächzenden Krähen im riesigen Mangobaum, unter dem ich in Yangon mit einem Buch liege. Die Dschungelgrenze, die wir als Backpacker überqueren, irgendwo zwischen Chile und Argentinien. Das gelbe Straßenlicht in den schwarzen Nächten von Livorno. Das Rauschen der Meere.

In der Ferne entdecke ich nicht nur die Vielfalt dieser Welt; ebenso entdecke ich mich.

Funfacts:
1. ich könnte schon wieder einen Prolog starten und erzählen, was ich im Sommer alles in meinen Koffer packe (Skihose, Schal, Handschuhe, dicke Unterwäsche…)

2. ich werde am Samstag diejenige sein, die in Arktisjacke und Wanderstiefeln am Flughafen zwischen Mallorca-Reisenden in Flipflops stehen wird.

Pre-Prolog

Alle Flüge meiner Reise – und es sind insgesamt sechs Flüge – wurden zwischenzeitlich gecancelt oder verlegt. Statt am 29.5. fliege ich nun am 28.5. in die Arktis. Und ich fliege einen Tag später zurück. Damit habe ich zwei zusätzliche Tage und Nächte in Longyearbyen. Longyearbyen ist eine ehemalige Minenarbeitersiedlung, die 1.050 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt zwischen schneebedeckten Bergen liegt.

Ich habe nun auch einen Zwischenstopp in Tromso und eine Nacht in Oslo statt in Kopenhagen. Da muss man flexibel sein.

Spitzbergen hat 2.600 Einwohner (von denen die meisten in Longyearbyen leben) und mehr als 3.000 Eisbären. Eisbären sind neugierige Tiere. Seit 1970 wurden auf Spitzbergen sechs Touristen von Eisbären getötet, der letzte im August 2020 auf einem Zeltplatz. Zelten werde ich nicht. Wir werden den Großteil unserer Zeit in Zodiacs – das sind schnittige Schlauchboote – verbringen und die Natur samt seinen tierischen Einwohnern in aller Stille beobachten. Kann meine knallrote Arktisjacke bei den tierischen Einwohnern Neugier erwecken? Ich hoffe nicht. 

In Longyearbyen schneit es gerade. Die Temperaturen bewegen sich zwischen 1 und -6 Grad. Ich mag Schnee. Und Reisen in abgelegene Gebiete sowieso.

Logbuch Côte d‘Azur

Das Jubiläum.

Ich sitze auf den Stufen vor der Villa Masséna, einem imposanten Gebäude der Belle Époque, und lausche dem Wind, der mit den Blättern der Bäume spielt. Die rosa Blüten schaukeln an den Zweigen, die Palmen biegen sich ganz sachte hin und her, als würden sie tanzen. Auf der Wiese rennt ein kleines Mädchen den auffliegenden Tauben hinterher, das alte Paar dreht seine dritte Runde durch den Park.

Der Wind spielt auch mit meinem Haar und streicht mir über mein Gesicht, und ich, ich lasse die letzten fünf Jahre Revue passieren.

Ich war am Ende der Welt in der Antarktis im Sturm und dem ewigen Eis. Am anderen Ende der Welt, der Arktis, habe ich nachts Nordlichter am Himmel tanzen gesehen. Ich war in Israel und im Westjordanland, ich stand auf den Golanhöhen zwischen blühenden Mandelbäumen und Minen. Nachts sass ich zwischen tausenden Kerzen im Sand vor Petras Schatzkammer in Jordanien. In der Sahara bin ich auf einem Kamel durch die Dünen geritten. Ich war auf 5.200 Metern Höhe im Basecamp des Mount Everest. Ich bin nach Madeira, Myanmar, Italien, Österreich, Edinburgh, Zürich und Amsterdam gereist und sitze nun in Nizza auf den Stufen der Villa Masséna.

Gestern habe ich eine Dankeskarte an meinen Arzt aus dem kleinen Krankenhaus geschickt, die heute bei ihm ankommen wird. Heute ist es genau fünf Jahre her, dass meine Krebstumore entfernt wurden. Das ist ein Meilenstein: damit gelte ich als Langzeitüberlebende.

Ich weiss, wie wertvoll und fragil Gesundheit ist: ich werde weiterhin gut auf mich aufpassen. Ich weiss, wie wertvoll und endlich Zeit ist: ich werde sie weiter gut nutzen. Es gibt noch viel zu entdecken.

Logbuch Côte d‘Azur

20.03.2022 – Tag 3

Das Gute mit mir selbst zu verreisen ist, dass ich nicht weiss, was ich im nächsten Moment machen werde. Auch wenn mir einerseits ein sturer Wesenszug nachgesagt wird, bin ich doch auch ein Meister der Flexibilität.

Ich verlasse das Hotel und weiss noch nicht, wohin es mich verschlagen wird. Monaco? Musee Matisse? Oder doch Saint Jean Cap Ferrat? Der Bus Nr. 12 hält. Ich steige ein. Lt App sollte ich bis…ach was..ich höre auf keine App und keine google map und steige einfach an einer anderen Haltestelle aus als die, die die App vorschlägt, warte auf die Linie 400 und fahre in Richtung Fondation Maeght. Dort steige ich dann doch nicht aus, ich habe jetzt Lust auf St Paul de Vence. St Paul de Vence ist ein kleines pittoreskes Dorf hoch oben auf dem Hügel. Ich wandere am Fusse des Dorfes entlang, es duftet nach Blumen, Orangenbäume tragen Früchte, ich blicke über grüne Hänge und Täler.

Der Weg endet auf dem wohl schönsten Friedhof der Welt, der am Rande des Dorfes liegt und über die Côte d‘Azur blickt. Ich besuche – wie immer, wenn ich hier bin – das Grab von Marc Chagall, dessen Gemälde ich gestern wieder bestaunt habe.

In einem kleinen Shop duftet es nach Oliven, Trüffel und Lavendel: man bietet mir Popcorn mit Trüffelsalz an (mega), ich teste eine Olivenhandcreme (bio) und erstehe Souvenire.

Oha! Der Rückweg wird eine Herausforderung, denn meine Haltestellen gibt es nicht. Die App, auf die ich nicht höre, will mich beim Umsteigen kompliziert durch eine obskure Gegend lotsen, das lehne ich natürlich ab. Dann evtl bis….die Fahrkarte erst in der Tram entwerten, sagt der Busfahrer, mit der Tram (?) plane ich zwar nicht zu fahren, aber wer weiss, wie ich aus den Bergdörfern am Sonntag wieder zurückkomme…

Ich nehme am Parc Phoenix tatsächlich die Tram, entwerte mein Ticket und bin doch recht froh, wieder nach Nizza zurückgefunden zu haben.

Logbuch Côte d‘Azur

19.03.2022 – Tag 2

Statt für die Villa Rothschild (Plan 1) oder die Fondation Maeght und St Paul de Vence (Plan 2) entscheide ich mich für das Musee Chagall, das auf einem Hügel oberhalb Nizzas liegt. Ich bin gespannt, was ich dort fühle; das letzte Mal war ich vor der Erkrankung dort. Zumindest spare ich diesmal den Eintritt und werde mit meinem Behindertenausweis durchgewunken.

Leicht sind die Gemälde, farbenfroh, intensiv und transzendent, Traumwelten treffen auf religiöse Motive und strahlen eine Leichtigkeit aus, die mir abhanden gekommen ist. Ich stehe im Raum und sehe mich um; meine verlorene Leichtigkeit finde ich nicht, aber das, wodurch sie damals ersetzt wurde: ich spüre eine tiefe Dankbarkeit und Demut, denn ich darf wieder hier sein.

Ich wandere zurück in die Stadt, schalte die blöde google map aus, denn der Weg wird immer länger, das kann ja gar nicht sein, noch 47 Minuten, 48 Minuten, 51 Minuten…ich gehe weiter. Zeit habe ich genug, und ausserdem liebe ich es, Neues zu entdecken. Ausserdem weiss ich: das Meer liegt unten. Also brauche ich nur abwärts gehen.

Ich gehe über den Blumenmarkt. Ich esse einen Salat in einem kleinen Bistro. Ich wandere durch die Altstadt. Und ich wandere zum Yachthafen. Ich nehme einen Lift zu einer Aussichtsplattform mit Blick über die Dächer von Nizza und schaue auf das azurblaue Meer. Ich laufe den Berg hinunter. Ich wandere an der Promenade des Anglais entlang. Ich setze mich in einen Beachclub und geniesse einen Milchkaffee. Ich lausche dem Rauschen der Wellen. Ich beobachte die Möwen am Himmel. Ich denke über die Leichtigkeit nach. Und vielleicht blitzt sie gerade doch ein wenig durch.