13.07.2017

Unterwegs.
Meine Eltern holen mich aus dem Sanatorium ab, wir spazieren gemeinsam um den See und gehen am Minigolfplatz vorbei. Mein Lockangebot, mich abzuholen und dafür von mir zum Essen eingeladen zu werden – entweder an der Therme oder beim Italiener auf dem Marktplatz – wird abgelehnt. Sie haben Reisebrote dabei. Vollkornbrötchen mit Butter und Käse. Für mich ein trockenes Brötchen, konstatiert meine Mutter, ich esse ja nichts mehr. Mein Vater und ich bleiben stehen und schauen verblüfft, ob sie das ernst meine, ein trockenes Brötchen, ohne irgendetwas drauf? Richtig verstanden, ein trockenes Brötchen, wiederholt sie, genauso trocken wie das Brötchen. Ich  bestehe auf ein belegtes Käsebrötchen, als wir an einer Autobahnraststätte halten, und auf eine halbe Banane. Die andere Hälfte legt sich meine Mutter auf das trockene Brötchen, schmeckt gut, sagt sie. Wir können stur.

Zuhause erwartet mich eine riesige Auswahl an frischem Obst und Gemüse. Da mein Mixer nicht mehr anspringen will, irgendetwas klötert in seinem Bauch, und öffnen kann man ihn nicht, gehe ich in die Stadt um Ersatz zu besorgen. Ich schleppe Mixer No 2 nach Hause, leider funktioniert er etwas anders als sein Vorgänger. 0,6 Liter Erdbeeren-Preiselbeer-Pfirsich-Smoothie quellen über den Motorblock, den ich kurzerhand unter fliessendes Wasser halte. No go. Stress. Konsultiere L. und M., ob sie meinten, ich würde tot sein, wenn ich den Mixer nun wieder in die Steckdose stecke. Wir einigen uns auf ein nein. Abwarten und Tee trinken. Trocknen lassen. Neuer Versuch. Läuft.

 

12.07.2017

Im Sanatorium. Tag 28

Auf dem Weg zur Physiotherapie schaue ich dann doch noch im Laden für Orthopädie vorbei.

Letzten Montag ist BH Bianca angekommen, wie von Freundin M. kommentiert, schaut Bianca spitztütig aus. Ich probiere sie an, sie ist bequem, und mit der Bluse drüber sehe ich aus, als sei ich einem Doris Day-Film aus den 50er Jahren entsprungen.

Da die Krankenkasse sich noch nicht wegen einer Kostenbeteiligung gemeldet hat, lasse ich Bianca im Laden zurück, nicht sicher, wie ich weiter verfahre. Wenn die Kasse sich meldet und anteilig zahlt, nehme ich sie, wenn nicht, darf sie nicht mit nach Hause, so meine Entscheidung.

Heute ist Mittwoch, die Krankenkasse hat sich gemeldet, freut sich die Verkäuferin. Ich bin unschlüssig, ob ich mich freuen soll, aber gut für das Brustödem soll sie ja sein. Ich packe Bianca ein, dann machen wir uns auf zur Physio.

12.07.2017

Im Sanatorium. Flashbacks

Wenn ich die Blutabnahme verweigere, da nach mehrmaligen Versuchen der Schwester kein Blut fliessen will und auch der herbeigerufene Chefarzt mich nicht von einem weiteren Versuch überzeugen kann.

Wenn ich keinen Rollator bekomme und nur mit dem Sitzkissen eines Rollstuhls das Haus verlasse.

Wenn mich alte Menschen mit Krücken und Rollstuhl auf dem Gang zum Speisesaal überholen, weil ich kaum laufen kann.

Wenn ich im Speisesaal allein an einem Stehtisch stehe, da ich nicht sitzen kann und mich darüber freue; ich brauche mich nicht zu unterhalten, ich will mich nicht unterhalten.

Wenn ich mein Bett nicht verlassen kann und Träume bunt sind, weil Tetrazepam, Tramal und Co mein täglich Brot sind.

Wenn der Arzt sich weigert, meine Medikamente zu reduzieren und mich stattdessen zu einem Vortrag über Schmerztherapie schickt.

Wenn ich meine Medikamente mit Hilfe einer pensionierten Apothekerin, die ich bei der Reha kennen gelernt habe, langsam absetze.

Wenn ich eine Magenverstimmung melde und zwei Tage Quarantäne bekomme und mein Zimmer nicht verlassen darf, während draussen die Sonne scheint und die Eltern warten.

Wenn mir beim Perlenkettenknüpfkurs die Dose mit den weißen Perlen runterfällt und ich mich nicht bücken und sie aufheben kann und hilflos zuschaue, wie die Krebspatienten unterm Tisch die Perlen für mich aufsammeln.

Wenn ich einen Termin bei einem Psychologen erbitte und darauf hingewiesen werde, dass der nur Patienten mit einer Krebserkrankung zur Verfügung stünde.

Wenn ich beim Abschlussgespräch mit dem Arzt empört feststelle, dass ich nicht behindert sei und keinen Behindertenausweis brauche.

Wenn ich nach fünf Jahren in die selbe Klinik gehe, in der ich damals wegen meiner gecrashten Bandscheibe war und sich die Vorzeichen geändert haben.

11.07.2017

Im Sanatorium. Tag 27
Mein Kinn ist in Augenhöhe mit den Wassertropfen, die in den Aussenbereich des hellblauen Pools fallen und kleine Kreise ziehen. Der Himmel ist dunkel, es donnert. Ich warte noch etwas am Übergang zum Innenbereich, ein Herr starrt mich an, ebenfalls am Übergang verharrend. Er ist älter, hat ein hageres aristokratisches Gesicht und helle Augen und wendet seinen Blick nicht von mir ab. Ich mag nicht angestarrt werden. Ob er vor mir nach drinnen schwimmen möchte, frage ich, er antwortet, dass wir auch gemeinsam durch den Übergang passen. Ich wende mich ab und schwimme nach drinnen. Hier ist es warm, die Badegäste drängeln sich am Beckenrand, die Sprudelanlage ist angegangen. Ich umrunde die plaudernden Damen und Herren und ziehe meine Bahnen. Ganz hinten in der Ecke erspähe ich das hagere Gesicht, die Augen geschlossen, der Kopf liegt im Nacken, drumherum eine grüne Schwimm-Nudel, auch er versinkt im blubbernden Wasser.

Ich schaue, ob ich U. irgendwo ausmachen kann, aber ihre rosa Badekappe ist nirgendwo zu sehen. Gestern, als ich das Gesundheitszentrum passierte, sah ich die Badekappe im Bewegungsbad hüpfen, dazu ertönte das helle Lachen von S. S. ist heute abgereist. Nach Hause. In die reale Welt.

Gestern Abend in der Weinbar haben wir unsere Ziele ausgetauscht – was haben wir aus dem Drama gelernt, was werden wir ändern? Wir stoßen wieder mal auf das Leben an; wir werden uns regelmässig wiedersehen, wir werden uns Feedback geben und erfahren, ob wir unsere Vorsätze verfolgen. Wir werden miteinander lachen und diskutieren. Wir werden füreinander da sein.

10.07.2017

Im Sanatorium. Tag 26
Es gebe Manager, die erleichtert seien, wenn sie einen schweren Autounfall hatten. Endlich loslassen können, endlich keine Verantwortung mehr tragen, endlich die ganze Arbeit hinter sich lassen, sagt Frau Z. bei unserem dritten Gespräch. Sie sieht mich forschend an; sie weiß, dass sie mich ertappt hat.

Im vierten Gespräch komme ich auf ihre Äusserung zurück. Ich gestehe ihr – und damit auch mir -, dass ich mehr als einmal im Büro vor dem PC gesessen und mir eine Krankheit gewünscht habe (kleines Burnout oder ähnliches), eine Krankheit, die mir zu einer Pause verhilft. Dann kam der Krebs und mit ihm die Pause.

Rückblickend ist es erschütternd einzugestehen, dass ich mir eine Krankheit gewünscht habe, um nicht mehr arbeiten zu müssen, das zeigt den hohen Grad meiner Verzeiflung. Erschütternd, weil ich mich mag und gut mit mir klarkomme. Man wünscht niemandem eine Krankheit, erst recht niemandem, den man mag.

Es wird nicht wieder passieren, dass ich mir eine Krankheit wünsche – auch wenn ich nicht denke, dass ich Krebs auf Wunsch bekommen habe und mir auch keine Vorwürfe wegen meiner Gedanken mache. Frau Z. und ich sind gut aufgestellt: positiv, strukturiert und lösungs- und zukunftsorientiert. Wir haben Lösungen erarbeitet, die aus vielen und ganz unterschiedlichen Gedankengängen entstanden sind.

Ich brauche nicht mehr krank werden.

10.07.2017

Im Sanatorium. Tag 26
Der Regen tropft von den Bäumen in meinen Eisbecher, während ich durch den Wald wandere. Meine aufgeweichten Turnschuhe geben ein schmatzendes Geräusch von sich, der nasse Waldboden gibt bei jedem Schritt nach. 

Heute morgen um 11 Uhr fiel meine Walking-Gruppe aus, weil der Regen einsetzte, ich bin stattdessen in den Fitnessraum gegangen und habe dort meinen Nachmittags-Termin wahrgenommen. Jetzt ist es Nachmittag, es regnet immer noch, und ich bin meine eigene Walking-Gruppe.

Ich habe keine Bedenken mehr, dass ich mich verlaufe. Auch wenn ich Orientierungslegastheniker bin, lande ich am Ende immer am Minigolfplatz, auf dem U. und ich gestern Abend in der Sonne gespielt haben. Jetzt hat er geschlossen. Der Regen ist der einzige Spieler auf dem Platz und lässt die Tropfen in die Löcher fallen.

Es ist gut, dass ich allein wandere, ich kann über die Gespräche nachdenken, die ich mit der Psychologin führe. Wir sind auf einer Wellenlänge, sie lässt mich reden, ich rede gern, und manchmal macht sie kleine kluge Anmerkungen, über die ich noch nachdenke, wenn das Gespräch schon längst beendet ist. Drei Termine bekommt man in seinen Plan gesetzt, wenn man Gesprächsbedarf mit einem Psychologen hat. Ein vierter wird mir von der Ärztin bewilligt, danach finde ich einen Brief von meiner Psychologin im Briefkasten, sie hat einen fünften Termin für mich abgemacht, wenn ich denn möchte. Ich möchte.

Der Regen wird stärker, die Sahne auf dem Eis verschwimmt.

03.07.2017

Im Sanatorium. Tag 19

Der Tag beginnt harmlos…
08:30 Ärztliche Wiedervorstellung
09:00 Ergometrie (Radfahren)
10:00 Wirbelsäulengymnastik
11:00 Onko-Kurs in der Lehrküche (wir mixen Smoothies)
12:00 Mittagessen
13:30 Aqua-Fit

…um dann mit dem Tages-Highlight „Rezepteinlösung im Orthopädischen Geschäft“ zu enden.
Nachdem ich im Krankenhaus mit meiner Mitstreiterin über die schrecklichen medizinischen BH’s  gelästert und bei der Reha im BH-Seminar dieselben wortlos an meine Sitznachbarin I. weitergegeben habe, bekomme ich jetzt die Quittung beziehungsweise ein Rezept über zwei medizinische BH’s, die gut für den Lymphfluss sein sollen und ich ein kleines Brustödem habe.

Mir schwant Schreckliches, mein Stimmungsbarometer steht auf Krawall, als ich den Laden für Orthopädie betrete. In fünf Minuten seien wir hier durch, so mein Intro, 70A, weiße Baumwolle, sportlich, kein Schnickschnack, ganz simpel. 45 Minuten später habe ich den Termin dreimal fast abgebrochen, wir wälzen uns durch Kataloge mit Gesundheits-BH’s und wühlen uns durch Kartons mit den hässlichsten BH-Modellen, die ich je gesehen habe. Mir passt keiner, weder von der Optik noch von der Größe. Da die Verkäuferin geduldig mit mir ist, probiere ich einen BH an, natürlich zu groß, zu beige, zu glänzend, zuviel Spitzenbesatz und so gar nicht das, was ich klar im Briefing kommuniziert habe. Am Ende und des lieben Friedens willen, bestellen wir ein Modell aus dem Katalog, das nächsten Montag geliefert wird, ein „femininer BH speziell für kleine Büsten in edlem Dessin“. Er heisst Bianca.  Weiß ist er zumindestens, der BH.

30.06.2017

Im Sanatorium. Tag 16

04:55
Ich wache auf. Über mir an der Decke neben dem Rauchmelder sitzt eine riesige Spinne.

05:00-05:55
Ich starre die Spinne an und platziere einen Schuh und ein Buch (nicht sicher, was besser zum Erschlagen ist) neben dem Bett, sollte sie sich von der Decke abseilen. Sie turnt herum, seilt sich einen halben Meter ab und klettert zurück auf ihre Ausgangsposition. Sie ist riesig, und ich habe Angst vor Spinnen.

06:00-06:30
Stehe auf, geh ins Bad, mache mich frisch und schaue alle paar Minuten wieder ins Zimmer um zu schauen, was die Spinne macht. Sie macht nichts.

06:45-07:15
Gehe frühstücken, selbst um diese gnadenlos frühe Zeit ist der Speisesaal in Haus 3 gefüllt.

07:15
Wandere ins Haus 4 um die Waschmaschinen-und Trockner-Situation zu prüfen. Trage mich für 08:00 zum Waschen und von 09:00-11:00 (zwei Turns nacheinander) zum Trocknen ein.

07:30
Laufe zurück ins Haus 1 und versuche, eine Putzfrau zu überzeugen, mit mir und nem Staubsauger in mein Zimmer zu kommen. Aussichtslos. Sie sei nicht für mein Zimmer zuständig.

07:35
Die Spinne sitzt immer noch an der Decke. Raufe meine Wäsche zusammen und mache mich auf zum  Haus 4. Treffe S. auf dem Flur, die auch Angst vor Spinnen hat und somit nicht helfen kann.

07:55
Haus 4, Wäsche in Waschmaschine.

08:10
Treffe meine Putzperle auf dem Flur in Haus 1, sie ist unerschrocken, folgt mir ins Zimmer und saugt die Spinne von der Decke. Ich liebe meine Putzperle.

08:15
Erzähle S. und U. im Speisesaal (Haus 3) von der erfolgreichen Schlacht. Mache einen Weg zu meinem Briefkasten und stelle fest, dass ich nicht mehr um 09:00 für Ergometrie eingetragen bin, sondern um 08:30 für Aqua-Fit.

08:16
Zurück ins Haus 1, Doutzen Kroes-Bikini II anziehen (Doutzen Kroes-Bikini I hängt regennass draussen vorm Fenster) und Sprint ins Gesundheitszentrum.

08:30
Aqua-Fit zum Dschungelbuch-Soundtrack – auf laut gedreht.

09:05
Wieder umziehen und rüber ins Haus 4, die Wäsche aus der Maschine in den Trockner befördern.

09:20
Im Zimmer in Haus 1 Sportzeug anziehen, Doutzen Kroes-Bikini II zum Trocknen aufhängen und Sprint ins Haus 3 zur Ergometrie

09:30
Ergometrie (Radfahren)

09:55
Verschwitzt in den Hörsaal in Haus 2 auflaufen, wo um 10:00 der Vortrag über Brustkrebs Teil 2 läuft. S. und U. die Story meines Morgens erzählen.

10:50
Von Haus 2 zu Haus 4, Wäsche aus dem Trockner holen. Zum Glück ist sie diesmal auch trocken (hab ja auch doppelt Zeit gebucht).

11:00
Von Haus 4 zurück ins Haus 1, duschen, umziehen, Feierabend.

29.06.2017

Im Sanatorium. Tag 15

Frau xy, bitte nach dem Mittagessen zur Rezeption kommen, Frau xy, bitte melden Sie sich an der Rezeption. S. und U. schauen mich erstaunt an, ich schaue erstaunt zurück. Noch nie wurde jemand über Lautsprecher im Speisesaal ausgerufen oder überhaupt irgendetwas durchgesagt. Ich bitte meine Tischrunde, mein Essen trotzdem bringen zu lassen – und nicht anzurühren – und sprinte rüber ins Haus 3. Vermutlich wird die Reha nicht verlängert, denke ich, oder mein Zimmer brennt gerade ab. Die Rezeptionistin schaut auf als ich meinen Namen nenne und verweist auf die Damen im Hinterzimmer, die für die Buchhaltung zuständig sind. Man wolle mir mein Fahrgeld von Euro 32,60 übergeben. Ich sage, dass ich mit etwas argem gerechnet habe aber nicht mit einer Reisekostenabrechnung, sie lächeln und erklären mir, man hätte mich den ganzen morgen nicht telefonisch auf meinem Zimmer erreichen können. Das ist auch irgendwie logisch, ich laufe ja von einer Behandlung zur nächsten.

Vor meiner Zimmertür verharre ich. Vorm Zimmer links von mir diskutieren eine Patientin und eine Mitarbeiterin der Klinik, die Tür hat einen Schaden auf der Innenseite, ein Stuhl steht vor der Tür. Ich tippe auf Randale. Vorm Zimmer rechts von mir steht eine andere Patientin, die die Türklinke mit Tuch und Reinigungsmittel akribisch von aussen putzt. Ich frage mich, weshalb meine Mitpatienten in der Klinik sind.

Ich schließe meine Zimmertür auf und schaue vorsichtig um die Ecke. Keine Veränderung auszumachen. Nicht auf dem Waschbecken, nicht auf dem Klodeckel, nicht auf dem Tisch. Seit Tagen vermehren sich meine Handtücher, mittlerweile habe ich 13 (dreizehn) Stück, die ich zwischen Bad und Schrank verteilt habe, langsam bekomme ich ein Platzproblem. Werfe ich ein schmutziges Handtuch auf den Boden, liegen später drei neue da, neulich sogar vier. Ich wage kaum, weitere Handtücher auf den Fussboden zu legen, da ich nicht weiß, wo ich die neuen alle lagern soll. Eines Tages werde ich die Zimmertür nicht mehr öffnen können, denke ich, da das Zimmer voller Handtücher ist. Für heute ist alles gut. Zumindest für mich. Was es mit den türklinkenputzenden und randalierenden Mitpatienten auf sich hat, kann ich nicht sagen.

28.06.2017

Im Sanatorium. Tag 14

Isst Du den Germknödel noch auf, frage ich S. Ich würde ihn sonst gegen meine Erdbeercreme tauschen. S. tauscht, ich esse die Reste ihres Hauptgangs als Nachtisch, der sehr lecker ist – wenn auch weniger gesund als mein Putengeschnetzeltes mit Karotten und Erbsen.
Wir diskutieren noch den Ernährung-bei-Krebs-Vortrag, in dem unsere Mittagsrunde heute gemeinsam war, dann muss ich auch schon los Richtung Seminar Konfliktmanagement-am-Arbeitsplatz. Wir sind nur zwei Teilnehmer, dafür umso effizienter, da auch meine Mitstreiterin engagiert mitmacht, und so sind wir in 45 Minuten mit Teil 1 des Seminars durch. Physio bei Herrn S., dessen Sohn noch immer auf sich warten lässt, was mich freut. Schon aus der Ferne winken wir uns fröhlich zu, wenn ich zu meinem Termin im Gesundheitszentrum auftauche. Die Sonne scheint, ich gehe in die Therme und schwimme meine Runden, der blaue Himmel über mir.

Habe heute zweimal bei der Arbeit angerufen; die Kollegin, die ich überraschend am Telefon hatte, begrüsst mich mit einem warmen „we all miss you“, und auch ich stelle fest, dass ich mich freue, meine Kollegen bald wiederzusehen. Unserem Chef teile ich mit, dass ich mit der Ärztin ein erstes Vorgespräch geführt habe und eine stufenweise Wiedereingliederung im August für realistisch halte. Ich erwähne, dass ich mit Kollegin T., die gerade im Krankenhaus ist, sehr viel Kontakt habe und erfahre, dass ihr Telefon jetzt ausgeschaltet ist – ein ernster Rückschlag. Ich bin traurig und auch geschockt – haben wir gestern beim Abendessen noch über die Dankbarkeit, die uns erfüllt, weil wir noch am Leben sind, gesprochen, wird jetzt wieder deutlich, wie fragil das Leben ist.
Beschliesse spontan, dass Abendbrot im Sanatorium ausfallen zu lassen und ins Restaurant zu gehen und ein Glas Wein auf das Leben zu trinken. Es ist so kurz, das Leben.

26.06.2017

Im Sanatorium. Tag 12

Anruf von meiner Station. Mein Onko-Kochkurs fällt aus, ich wäre die einzige Teilnehmerin gewesen. Entweder kennen sich meine Mitstreiter mit gesunder Ernährung aus oder ich bin die Einzige, die daran Interesse hat. Ich vermute letzteres.

Wandere nach der Wirbelsäulengymnastik direkt zur Therme und schwimme statt zu kochen. In der Therme kommt mir I. entgegen, auch ihre Kreativtherapie ist entfallen, zum Glück hat sich eine Ergotherapeutin erbarmt und mit ihr das Weidenkörbchen zu Ende geflochten. Sie präsentiert es stolz beim Mittagessen, es sieht wirklich gut aus.

Meine abendliche Taiji-Stunde habe ich schon um 9:00 Uhr absolviert, da S. Eventmanager-Qualitäten zeigt und unser Abendprogramm in die Hand genommen hat. Gestern waren wir auf ein Glas Wein beim Italiener, heute werden wir nach dem Essen in einen Outletstore für Sportkleidung fahren, morgen hat sie uns beim chinesischen Taiji-Meister angemeldet, den ich unter meinem Baum gefunden hatte. Und das Lübecker Theaterprogramm wird sie auch noch für uns durchgehen. Läuft bei uns.

 

25.06.2017

Im Sanatorium. Tag 11

Nähzeug von I. ausgeliehen. Bei meinem schwarzen Doutzen Kroes-Bikini hat sich ein Faden gelöst, der das mittige Dekoelement mit dem rechten Stoffteil verbunden hat. Das muss behoben werden, so kann ich nicht schwimmen gehen, nicht in diesem Bikini. Langsam entwickele ich in der Reha ungeahnte hausfrauliche Fähigkeiten, bügeln, nähen, und gleich werde ich in die Waschküche wandern und den Trockner anwerfen.

U. erzählt beim Frühstück, dass gestern Abend im Speisesaal Damen verwarnt wurden, die ihren eigenen Aufschnitt mitbrachten. Ich entgegne, dass ich meine „Zufütterung“ mit der Diätassistenz und der Ärztin abgesprochen habe, auch habe ich es schriftlich vom Humangenetiker, was ich alles nicht essen soll, und das umfasst den Hauptteil des Buffets im Speisesaal. Entschliesse mich, mich nicht zu ärgern und bin gespannt auf meinen Onko-Kochkurs am Montag. Danach ist dann ein Jacobsen-Entspannungs-Termin im Plan, die wissen, warum…

Gestern Abend war ich nicht zum Essen anwesend, nach meinem Marktbesuch am Morgen und der Sightseeingtour durch Lübeck habe ich spontan entschlossen, das gute Wetter zu nutzen und zum Schwimmen zu gehen. Nach dem Schwimmen bin ich um den See gejoggt, um dann noch eine Taiji-Form unter meinem Baum zu praktizieren. Ich laufe zu sportlichen Höchstformen auf. Bin begeistert.

24.06.2017

Im Sanatorium. Tag 10

Und jetzt müsse ich es vorsichtig bügeln, ruft die Therapeutin zu mir rüber. Ich gucke konsterniert – wer mich kennt, weiß, dass ich grundsätzlich nicht bügele und zuhause eine Mutter habe, die sich erbarmt und sich alle zwei Wochen meiner krausen Blusen annimmt. Mama ist leider weit weg, die andere Dame, die auch ein Seidentuch kreiert hat, ist bereits fertig und über alle Berge, die beiden Weidenkorbflechterinnen arbeiten konzentriert an ihren Brotkörbchen. Keine Bügelhilfe in Sicht.

Später wird meine Freundin M. sagen, dass das ja schon etwas von Behindertenwerkstatt hat, Freundin L. hingegen wünscht sich auch einen selbstgemachten Seidenschal.

Ich bin begeistert bei der Sache, wenn man vom Bügeln – und man muss es zweimal bügeln – absieht. Es bringt mir Spaß, die Farben auszuwählen, zu überlegen, wie ich die Seide bemalen möchte; ich wähle ein Blumenmuster, dass ich mit Hilfe von Murmeln, die man in das Tuch eindreht, kreieren kann. Ich sehe zu, wie die Farben ineinanderlaufen, sich verändern, wenn man das Tuch fönt und wäscht. Stolz binde ich es um, um es meiner Mittagsrunde zu präsentieren: auch U., I. und S. sind angetan, I. ist etwas traurig, dass sie uns noch immer nicht ihr Weidenkörbchen zeigen kann, da es noch längst nicht fertig ist. Abends holt mich mein Freund O. mit dem Auto ab, wir fahren nach Scharbeutz zum Dinner, ich schaue in den Seitenspiegel und drappiere mein Tuch immer wieder neu und lasse mir immer wieder bestätigen, dass es gut aussieht.

Ich bin gespannt, wie das Tuch auf mich wirkt, wenn ich die Parallelwelt wieder verlassen habe. Meine Perlenketten, die ich vor fünf Jahren in der Reha geknüpft habe, machten auf mich, sobald ich zuhause war, einen erschreckend hilflosen Eindruck. Ausserhalb der Parallelwelt habe ich sie nie wieder getragen.

23.06.2017

Im Sanatorium. Tag 9

S. wird nachher den Chinesen anrufen, den ich unter meinem Baum entdeckt habe; am Dienstag Abend werden wir zusammen eine Probestunde Taiji bzw. Qigong nehmen und Einblicke in die Chinesische Medizin bekommen.

22.06.2017

Im Sanatorium. Tag 8

Da, wo die Felswand, auf der die Burgruine steht, einen breiten Absatz bildet, steht ein alter Haselbusch. Dicht verästelt ist er, und Schlehen und Weißdorn, Hundsrose und Brombeere bilden um ihn ein dichtes Verhau, und über ihn erstreckt sich das Laubwerk eines krummen Lindenbaumes, der sein knorriges Wurzelwerk in die Risse der Wand getrieben hat.
Das Geheimnis des Haselbusches

Es ist abends, die Vögel singen, unter meinen Schritten knirscht der steinige Waldboden. Die Sonne spielt mit den Blättern, die im Wind rauschen, sonst ist es still. Ich wandere durch den Wald, auf einem Baumstumpf entdecke ich ein Waldbuch, blättere es auf und fange an zu lesen. Zwei Eichhörnchen klettern auf einen Baum.

 

20.06.2017

Im Sanatorium. Tag 6

Ich mache einen Abstecher in den Kurpark und bleibe wie angewurzelt stehen: genau unter meinem Baum, unter dem ich jeden Abend Taiji mache, steht ein Chinese mit einer Gruppe Schülern. Sie bewegen sich langsam und sanft wie Blätter im Wind und praktizieren tatsächlich Taiji, aber einen anderen Stil. Ich bleibe eine Weile stehen und schaue fasziniert zu.

19.06.2017

Im Sanatorium. Tag 5

Es ist 7:30 Uhr, wir sitzen beim Frühstück. I. erzählt begeistert von dem Weidekörbchen, das sie gestern bei der Kreativtherapie geflochten hat. Gleich wird sie sich auf den Weg zum Lach-Yoga machen, ich beglückwünsche mich innerlich, dass ich weder zu Weidekörbchen noch zu Lach-Yoga verdonnert wurde. Ich höre mir einen Vortrag über Entspannungstechniken an, bevor es weiter ins Gesundheitszentrum zur Wirbelsäulengymnastik und danach zur Krankengymnastik zu Herrn S. geht. Herr S. ist da, sein Kind lässt auf sich warten. Dann ein Termin bei meiner Ärztin, die mir in Punkto gesunde Ernährung zustimmt und mir noch Seiten aus ihrem Ernährungsbuch kopiert: Gewürze, die gut gegen zu hohes Cholesterin und gegen Krebs sind. Darüber freue ich mich. Auch über meine gute Laune solle ich mich freuen, meint sie und nicht die Mitpatienten als Maßstab nehmen. Am Nachmittag noch ein Vortrag über korrekte Büstenhalter und Silikoneinlagen, diverse Modelle werden durch die Reihen gereicht. Ich muss an die BH-Präsentation im Krankenhaus denken, auch diesmal ist die Damenwäsche für eine ältere Klientel gedacht, ich reiche sie einfach nach links weiter an I., die schon etwas interessierter guckt.

Dann in die Therme, ich schwimme ein paar Runden in der Sonne, bevor ich wieder in den Kurpark gehe und – auf den See blickend – Taiji unter den großen Bäumen praktiziere. Ich wandere eine letzte Runde um den See, eine Entenfamilie kommt mir auf dem Waldweg entgegen, und ich könnte hier bis in alle Ewigkeit den See umrunden, ein bisschen wie Patrick Süsskind’s Herr Sommer. Ich würde nie mehr krank werden.

18.06.2017

Im Sanatorium. Tag 4

Wieder einmal stehe ich mit prüfendem Blick vor dem Spiegel. Mir ist beim Frühstück aufgefallen, dass viele Mitstreiter müde aussehen. Sehe ich auch müde aus? Ja, ich sehe auch müde aus, muss ich mir unfreiwillig eingestehen. Ich erinnere mich daran, dass ich gestern Abend in Lübeck bei „den Jungs“ zum Grillen war, Sekt getrunken habe und bei der nächtlichen Rückkehr von Eingang zu Eingang des Gebäudekomplexes gelaufen bin, um festzustellen dass alles abgeschlossen ist. Große Erleichterung, als ich doch noch eine Tür finde, die offen ist und durch leere Gänge und einen dunklen Speisesaal schleiche, um wieder ins Haus 1 in mein Zimmer in den zweiten Stock zu gelangen. Kein Wunder also, dass ich müde aussehe.

An der Bushaltestelle stelle ich fest, dass hier kein Bus zum Timmendorfer Strand fährt, was eigentlich mein Ausflugsziel sein sollte. Ich steige stattdessen in den Bus nach Travemünde. Der Weg ist das Ziel – zumindest bei mir und meinen Busfahrten. Wir fahren durch einen Wald, durchqueren ein Industriegebiet mit riesigen Hornbach-, Aldi-, und Ikea-Outlets, es geht durch Einfamilienhaussiedlungen, bei denen die Autos auf den Auffahrten stehen und Rosen in den Vorgärten ranken. Sonntags in Deutschland. Nach knapp einer Stunde erreichen wir Travemünde.

Das letzte Mal war ich im Februar in Travemünde, einen Arzttermin hatte ich schon eingeholt. Jetzt bin ich zurück. Es ist noch etwas grau, ich wandere die Strandpromenade entlang, kaufe mir ein Tuch (hand-made in Hamburg), trinke einen Kaffee im Strandkorb und blinzele irgendwann in die Sonne.

Im Sanatorium verpasse ich gerade den Spielmannszug des VFL Bad Schwartau, der in der Musikmuschel im Kurpark spielt, aber auch Travemündes Spielmannszug ist an der Promenade aktiv – hey Pippi Langstrumpf – scheppert es, die Musik vermengt sich mit der des Leierkastenmanns, der eine Ecke weiter an der Promenade steht.

Ich spaziere etwas weiter, setze mich vor „mein“ Atlantik Grand Hotel, bestelle etwas zu Mittag und bin bestens gelaunt (note to myself: am Dienstag beim Termin mit dem Psychologen fragen, ob das normal ist, meine verdächtig gute Laune).

Ich stehe am Strand und schaue auf den Sonnenschutz der Strandkörbe. Rote Farbe. Blaue Farbe. Grüne Farbe.

 

16.06.2017

Im Sanatorium. Tag 2 – Nachtrag 2

Vor der Zimmertür stoße ich mit meiner Nachbarin zusammen. Sie hält eine Schüssel mit Salat in der Hand, selbstgemacht, auf dem Zimmer. Das Essen sei hier ungesund, erklärt sie entschuldigend, sie hätte sich auch schon beschwert. Ich triumphiere innerlich.

Die Kartoffel-Wedges ignorierend, stelle ich meinen geschmuggelten Becher im Speisesaal ab und mache mich auf den Weg in den Kurpark. Buddhas Wächter ruft.

16.06.2017

Im Sanatorium. Tag 2 – Nachtrag

Da die Programmpunkte „Kennlerntreffen“ und „Soziales Seminar“ doch etwas an meiner guten Laune gezerrt haben, kurzen Prozess gemacht: Obst und andere leckere Lebensmittel eingekauft und mir on top einen Blumenstrauß geschenkt. Becher Kaffee auf’s Zimmer geschmuggelt und vorgezogenes Abendmahl genossen. Die Kantine fällt somit für mich aus – Problem gelöst, Stimmung wieder gut.

Nach heftigem Unwetter kommt auch die Sonne wieder zum Vorschein, ich werde mich gleich den chinesischen Kampfkünsten im Kurpark widmen.

16.06.2017

Im Sanatorium. Tag 2

Ob ich gegen etwas allergisch sei, fragt mich die Diätassistentin bei unserem Termin. Gegen ungesunde Ernährung, antworte ich.

Am Restauranteingang ist ein Mahnmal aufgebaut, das Nutella, Haribo, Fertigsuppen & Co mitsamt den Zuckerwürfeln zeigt, die in den Lebensmitteln enthalten sind. Am Buffet gestern Abend stand ich allerdings unschlüssig zwischen verarbeiteter Wurst, hellem Brot, Kartoffelpuffer und Kaba-Kakao herum, alles Dinge, die ich aus meinem neuen Leben gestrichen habe, da sie nicht in meine Definition von gesunder Ernährung fallen. Es werden bei der Reha auch Ernährungs- und Diät-Vorträge gehalten, was ich gut, wenn auch skurril finde, wenn ich die angebotenen Speisen sehe.

Ich zähle auf, was ich alles nicht mehr esse, schnell wird der Dame klar, dass bis auf Käse und Gurkenscheiben nicht viel bleibt, was mir zusagt. Meinem Vorschlag, dass ich mir Obst und Avocados mitbringe, wird zugestimmt. Es solle nur nicht ausarten mit meinem eigenen Büffet. Ich lächele zustimmend und gehe gedanklich durch, wie ich weitere Dinge in den Speisesaal schmuggeln kann.

Auf zum dritten Termin des Morgens, um 9.00 Uhr sitze ich beim Ergotherapeuten. Auf den Blick in meine Patientenkarte – beidseitige Brustkrebs-OP und Bandscheiben-OP – stellt er fest, dass ich hiermit schon die schweren Dinge abgedeckt hätte. Ich weise darauf hin, dass er mich nicht demotivieren solle, was auch immer wir hier ergomässig machen, um mein Befinden zu optimieren – ich bin dabei. Er drückt 20 Minuten am Rücken und der rechten Schulter herum, dann sind wir fertig. Beim nächsten Mal wird er mit der Narbentherapie beginnen. Wenn er dann nicht gerade sein zweites Kind bekommt, das nächste Woche Stichtag hat. Fröhlich verabschieden wir uns, vielleicht sehen wir uns in der kommenden Woche wieder. Vielleicht aber auch nicht.

 

15.06.2017

Im Sanatorium. Tag 1

Am Hamburger Hauptbahnhof sind die Anzeigetafeln ausgefallen, ich stehe mit meinem Gepäck an der Treppe zu Gleis 5 und schaue mich um. Ob er mir helfen kann, fragt der Herr von der Bahn, der eine Übersicht für die nächsten Zugabfahrten dabei hat. Ja, sehr gern, antworte ich, ich suche einen Fahrstuhl. Er deutet direkt hinter mich.

Ich steige ein, es ist sogar eine Bahn früher als geplant, es geht in Richtung Lübeck. Dort kaufe ich mir einen Kaffee, setze mich ans Gleis 8 in die Sonne und warte auf den Anschlusszug Richtung Bad Schwartau. Ich freue mich.

Ob ich ihren Platz möchte, fragt die Dame in der Bahn, ich verneine, etwas überrascht, die Bahn ist fast leer. Ich gehe weiter, sie behält mich im Auge, auch sie steigt in Bad Schwartau aus, bleibt neben mir stehen, bis ich sie frage, ob wir dasselbe Ziel hätten. Das haben wir, sie arbeitet im Sanatorium, in dem ich gleich einchecken werde. Da das abgesprochene Taxi nicht da ist, marschiere ich mit ihr und meinem Gepäck zu Fuß zur Klinik. Wir plaudern während ich versuche, mir den Weg zu merken. Kann ich natürlich nicht. Ich war schon immer ein Orientierungslegastheniker.

Das Sanatorium ist riesig, hier habe ich mich schon vor fünf Jahren verlaufen, damals, als ich wegen meiner gecrashten Bandscheibe zur Reha musste. Auf dem Weg zur Registrierung in meiner Abteilung verirre ich mich, eine nette Schwester gabelt mich in Haus 4 auf und bringt mich ins Haus 2. Danach gehts wieder zurück an die Rezeption in Haus 3, von dort geht es weiter auf mein Zimmer ins Haus 1. Der Vormittag gestaltet sich sportlich, ich bin ob des ganzen hin und her bereits erledigt.

Beim Mittagessen gibt es feste Tische, ich sitze bei E. und I., auch beide Brustkrebs-Patientinnen, die über ihre Chemo-Nachwirkungen berichten. Ich sei sicher froh, dass ich das nicht mitmachen musste, stellt I. fest, ich spüre ihren Blick auf meine langen offenen Haare.  Das stimmt, sage ich. Davor hatte ich Angst.

Nach dem Mittag der erste Arzttermin, Frau Dr. B. ist sehr nett, wir verstehen uns, ich bin über eine Stunde bei ihr und verpasse damit den nächsten Termin – die Führung durch die Klinik. Aber die kenne ich ja auch schon von meinem letzten Aufenthalt, sagt Frau Dr. B.. Ich bejahe und denke an meine unfreiwillige Exkursion durch alle Häuser des Geländes. Den Vortrag über „warum-eigentlich-Reha“, den sie am Nachmittag hält, dürfe ich auch ausfallen lassen, ich mache nicht den Eindruck, als ob ich nicht wüsste, warum ich hier bin. Und dann schenkt sie mir ein großes Herzkissen des „Heart Pillow Projects“, handgenäht von einer Dame aus Bad Schwartau. Das Kissen reduziert Schmerzen, die durch Narben und Schwellungen entstanden sind. Auf dem Zettel dazu steht: „Es ist etwas ganz persönliches für Dich, woran Du Dich halten kannst – und es sieht hübsch aus!“ Das tut es. Meines ist blau-rot. Und ein bisschen rosa.

Den Nachmittag verbringe ich mit einem Spaziergang um den See, kaufe mir in der Innenstadt Obst (ich habe meine kleine Saftpresse eingepackt) und verbringe Zeit im Kurpark, wo ich auf der Wiese unter den Bäumen Taiji praktiziere.

09.06.2017

Unterwegs.

Auf dem Bahnsteig Menschengewimmel, Hunderte schienen den Zug stürmen zu wollen – Familien, viele Kinder, Mütter mit Säuglingen auf dem Arm und sogar eine dicke Bäuerin, die Hühner in einem Käfig mitschleppte.
Georges Simenon, Der Zug aus Venedig

Die fünf Herren, die auf dem Hamburger Hauptbahnhof vorm U-Bahn-Ausgang in der Menschenmenge stehen, tragen edle graue Anzüge. Sie scheinen auf jemanden zu warten und passen nicht so recht in die Gegend, in der sich sonst Drogendealer und Heimatlose aufhalten. Mein erster Impuls ist es, auf meine Kollegen zuzugehen, sie zu begrüßen; ich freue mich, sie zu sehen. Trotzdem gehe ich weiter, biege nach rechts ab ins Reisecenter, um mir das Bahnticket für meine Fahrt zur Reha-Klinik zu kaufen. Irgendwie passt das nicht, ich in alter Jeans und Sneakers, und was genau soll ich sagen, außer einem „hallo, schön euch nach einigen Monaten wieder zu sehen, was macht die Arbeit“? Wie ein Schachspieler sehe ich den nächsten Moment vor Augen, der wohl ein betretendes Schweigen wäre, ein paar hilflose Bemerkungen, ein suchender Blick in die Gegend.

Ich kaufe die Fahrkarte, kehre auf den Bahnhofsvorplatz zurück, die Kollegen sind verschwunden. Ich nehme die S-Bahn zum Jungfernstieg. Im Alsterhaus kaufe ich mir eine neue Jeans, seit ich vier Kilo abgenommen habe und das neue Gewicht halte, habe ich ein Problem mit dem Inhalt meines Kleiderschrankes. Überraschenderweise passt mir die erste Hose, die mir die Verkäuferin in die Umkleide reicht, ich nehme sie mit und schlendere weiter  zum Gänsemarkt. Da auch Zeit für die Einnahme meiner Anti-Krebs-Medikamente ist, gönne ich mir ein spätes Mittagessen im Blockhouse, natürlich kein rotes Fleisch und keine Pommes sondern die light-Variante: Putenmedallions und Ofenkartoffel.

Überhaupt bin ich mit meiner neuen Ernährungsweise konsequent und sehr zufrieden, genauso wie mit dem täglichen Sportprogramm, das ich durch motivierende Ereignisse wie einen Kosmetiktermin im Nivea-Haus, einem Friseurbesuch oder eben den Kauf einer Hose anreichere. Mein privates Reha-Projekt läuft; ich hoffe, dass die eigentliche Reha, die Mitte nächster Woche startet, inhaltlich mithalten kann. Vor allem hoffe ich, dass ich dort die Käseglocke, die über mich gestülpt ist, abstreifen kann – noch ist die Fatigue ein Teil meines täglichen Lebens, noch bin ich unkonzentriert und in vielen Dingen schlichtweg langsam.

Zuhause räume ich den Kleiderschrank aus, eine neue Hose bedeutet, eine andere auszusortieren. Ich sortiere drei Hosen aus, vier Schals, zwei Gürtel sowie drei Stoffbären und einen grünen Drachen, was auch immer die Horde Stofftiere im obersten Fach des Kleiderschrankes zu suchen hat. Ich stopfe sie in Tüten, wandere wieder los und werfe sie in den Container, der vor der Katharinenkirche steht.

Abends bekomme ich Post von J., der koreanischen Fotografie-Studentin, die mir erste Abzüge unseres Fotoshootings zum Thema „meine zukünftige Beerdigung“ schickt. Die Fotos sind sehr schön, zwischen Lächeln und Nachdenklichkeit, direktem Blick in die Kamera und Blicke in die Ferne ist alles dabei. Ich freue mich. Und empfinde das Projekt nicht als morbide, sondern hilfreich, die Beschäftigung mit dem eigenen Tod, dem Leben, den Wünschen. J.’s Plan ist es, ihre Semesterarbeit in einer Galerie auszustellen, und ich bin gespannt, wie andere Teilnehmerinnen ihre Beerdigungsfotos inszeniert und was sie zum Thema Tod und Leben zu sagen haben.

04.06.2017

Zuhause.

Der Mensch ist vielerlei, aber vernünftig ist er nicht.
Oscar Wilde

Auszug aus dem Arztbrief vom Radiologischen Zentrum vom 29. Mai.
Behandlungsbedingt litt die Patientin unter einer deutlichen Fatigue-Symptomatik. Bei Abschluss der Therapie zeigte die Haut im Bereich des Bestrahlungsfeldes ein Erythem Grad II mit deutlicher Hyperpigmentierung sowie ein minimales Brustödem.

Note to myself:
Es war vernünftig, seit Beginn des Dramas einem selbst auferlegten google-Verbot zu folgen.
Note to myself:
Es war nicht vernünftig, das google-Verbot zu ignorieren und Begriffe wie Erythem und Ödem zu googeln (Bildauswahl).
Lesson learnt:
Schlimmer geht immer.

 

03.06.2017

Unterwegs.

I travel because I like to move from place to place, I enjoy the sense of freedom it gives me, it pleases me to be rid of ties, responsibilities, duties, I like the unknown; I am often tired of myself and I have a notion that by travel I can add to my personality and so change myself a little. I do not bring back from the journey quite the same self that I took.
W. Somerset Maugham

Es ist kalt und stürmisch, die Wellen ragen dunkelgrau über der Nordsee auf, brechen mit einem gewaltigen Tosen, die salzige Gischt fliegt mir ins Gesicht, während ich am Nordsee-Strand entlang wandere. Ich fühle mich frei. Und glücklich.

Es hat mich nicht gestört, dass die Bahn in Hamburg mit Verspätung losfuhr, es hat mich nicht gestört, dass der Kellner mir im Restaurant einen anderen Tisch zuwies, weil der ursprünglich eingenommene Platz reserviert war, und auch für das Problem mit dem Badeanzug, mit dem ich eigentlich in den Hotelpool wollte und den ich auf der Haut nicht ertragen kann, finde ich eine Lösung: ich setze mich im Bademantel an den Beckenrand und lasse einfach die Beine ins Wasser baumeln. Alles ist gut.

Mein Hotelzimmer ist wundervoll, es liegt unter dem Dach und hat schräge Decken, das Sonnenlicht flutet durch Bad und Schlafzimmer, das Boxspringbett hat eine perfekte Matratze, es gibt sogar ein Obstkörbchen und eine Minibar mit Gratis-Getränken. Wenn ich aus dem kleineren Fenster schaue, sehe ich das Meer.  Es ist so nah.

Am Bahnhof warte ich auf den Bus, der mich nach List, ganz in den Norden von Sylt, bringen soll. Da als erstes ein Bus nach Hörnum fährt, ändere ich kurzerhand meinen Plan und springe hinein; auf geht es in den Südteil der Insel. Flexibilität kann ich.

Ich schaue aus dem Fenster, sehe Dünenlandschaften und reetdachgedeckte Häuschen an mir vorbeirauschen, ich sehe mein Spiegelbild, das mir zulächelt. Ich lächele zurück.

Hörnum ist langweilig, der Hafen klein, ich wandere etwas unentschlossen am Meer entlang, dann steige wieder in den Bus. Nach der Hälfte der Strecke steige ich aus, links und rechts sind Dünen, hinter einer liegt die Sansibar. Das Ziel gefällt mir, ich marschiere bergauf und bergab, um mich dann vor der Sansibar auf einer Holzbank niederzulassen, das Gesicht in der Sonne, ein Glas Prosecco in der Hand. Es ist 11.00 Uhr morgens, ich bin bestens gelaunt.

Wieder zurück in Westerland, beschliesse ich, den Mittagsschlaf, den ich eigentlich eingeplant hatte, ausfallen zu lassen, nun geht es weiter nach Kampen und List. Der Bus ist voller Schulkinder, das Leben tobt. Nachdem auch List etwas enttäuschend ist, fahre ich wieder zurück. Ich habe Zeit, ich kann machen was ich möchte. Ich bummle durch die Friedrichstraße, gehe in Geschäfte, probiere Hosen und Schuhe an, esse etwas kleines zu (Nach)Mittag, bevor ich mich im Hotel für den nächsten Strandspaziergang umziehe. Unterwegs entdecke ich ein schönes Restaurant mit Blick auf’s Meer, ich beschliesse, dort zu Abend zu essen, gehe zurück ins Hotel, ziehe mich wieder um, bevor es zum Dinner geht. Ich sitze auf der Terrasse des Restaurants, es ist kühl aber sonnig, die untergehende Sonne spielt mit den Wolken, ich freue mich über den sehr leckeren Salat mit gratiniertem Ziegenkäse.

Auch am nächsten Tag gehe ich lange am Strand spazieren, der Wind hat sich gelegt, die Sonne strahlt, die Strandkörbe füllen sich mit Badegästen.
Ich bin ganz bei mir und gleichzeitig Teil des ganzen fröhlichen Trubels, der das Drama der letzten Wochen verdrängt.

30.05.2017

Flashbacks

Die kleine Tochter meiner Zimmergenossin im Krankenhaus, die vor meinem Bett steht und mir vertrauensvoll von ihrem weißen Himmelbett, dem Traumfänger aus dem Gran Canaria-Urlaub und dem Engel, der vor ihrem Bett sitzt und sie beschützt, erzählt.

Die Fahrt mit der Fähre nach Övelgönne im Sturm und Regen, nachdem ich vorher bei der Internistin geweint habe, die mich eigentlich zur Schilddrüsen-OP ins Krankenhaus einweisen wollte und mich nun krankschreibt, als ich ihr vom Verdacht auf Krebs erzähle. Auch auf der Fähre weine ich. Das macht nichts, ich bin die einzige, die sich bei dem Wetter auf das Schiff verirrt hat.

Die nächste Fahrt mit der Fähre – diesmal nach der Krebs-OP – die Sonne scheint, die Menschen sind fröhlich und ich eigentlich auch, die anderen kaufen Eis, ich halte schützend meinen Arm vor den Oberkörper, setze mich abseits der Menschenmassen und werde wieder von Traurigkeit übermannt. Als ob die Traurigkeit der letzten Fahrt an Bord geblieben und auf mich gewartet hat.

Die alte Frau mit dem wettergegerbten Gesicht und den Lachfalten um den Augen, die energisch ihr Fahrrad über den Ponton schiebt, voller Leben.

Der blinde, ältere Türke, der jeden Tag von seiner Frau zur Strahlentherapie begleitet wird und mir im Wartezimmer gegenüber sitzt. Wer bestimmt, wieviel Leid ein Mensch zu tragen hat?

Die zwei jungen Frauen, die sich im Wartezimmer über Frisuren während der Chemo-Therapie unterhalten, die eine nimmt ihre Mütze ab und zeigt auf die vereinzelten Haarsträhnen, die noch geblieben sind. Sie möchte es mit einem Kurzhaarschnitt versuchen. Die andere, die ihr Tuch abnimmt und stolz die ersten Haare zeigt, die wieder wachsen.

Das Shooting mit der koreanischen Foografie-Studentin J., die Portraits  für ihre Semesterarbeit macht, das Thema: Deine zukünftige Beerdigung. Die Fragen zum Thema Tod, die ich schriftlich auf  ihrem schönem Zeichenpapier beantworte, mit meinem Montblanc-Füller und lila Tinte. Es hat etwas festliches. J., die berührt ist und mich umarmt.

Die irritierten Blicke und vorsichtigen Fragen der Nachbarn, des Friseurs, des Feinkosthändlers, die mich jetzt tagsüber in meinem Stadtteil sehen.

Der schöne Abend mit meinen Freundinnen M. und L., die immer für mich da sind und die ich in die Bridge-Bar eingeladen habe, um mal wieder auf das Leben anzustoßen. Auf den Fotos strahlen wir.

Der Kauf eines Bikinis in der Innenstadt – was Doutzen Kroes steht, sollte mir doch auch stehen… Tut es. Und zwar so gut, dass ich am nächsten Tag einen weiteren Bikini kaufen gehe. Trotz des malträtierten Oberkörpers von Operation und Strahlentherapie schaue ich selbstsicher in den Spiegel der Umkleidekabine. Ich finde mich schön.

Der Freund, dem ich Fotos von mir in meinen neuen Bikinis schicke und der mir antwortet und sagt, dass ich toll aussehe und das packen würde.

Die spontane Buchung eines Kurzurlaubs auf Sylt. Gesunde, fröhliche Menschen möchte ich sehen, die Eis in den Cafés essen und Champagner in der Sansibar trinken. Ich möchte ein Teil von ihnen sein. Und Abstand von den letzten Wochen gewinnen, der Angst, der Müdigkeit, den Schmerzen, den Kranken, den Bildern im Kopf.

Der Stuhl, auf dem ich wieder im Sprechzimmer des Krankenhauses sitze, als mir Prof. Dr. M. eröffnete, dass ich Krebs habe. Heute sitzt mir eine sachlich-sortierte Ärztin gegenüber, zu der ich für die weiteren Nachsorgeuntersuchungen gehen werde.

29.05.2017

Unterwegs.

Wahrnehmung. Alle Sinne (insbesondere Sehen, Hören, Tasten, Riechen) müssen geschult werden. Aber das Entscheidende ist die Achtsamkeit, die alles Wichtige markiert. Dafür muss man im „Flow“, im Fließen, sein und mit allen Sinnen in der Gegenwart.
Keith R. Kernspecht, Inneres WingTsun!

Es ist 10.40h, ich liege, wie die letzten fünf Wochen um diese Zeit, auf dem Rücken, die Arme sind angewinkelt über meinem Kopf, die Beine etwas erhöht. Wieder läuft Musik aus dem Radio, wieder ist das Licht über mir sehr hell. Ich schaue aber nicht auf den Screen mit dem dicken grünen Männchen, ich muss nicht die Luft anhalten, ich trage ein T-Shirt und kein Strahlengerät kreist um mich herum. Ich treibe Sport.

Ab heute beginnt mein mir selbst verschriebenes Fitnessprogramm, um die anhaltende Müdigkeit zu bekämpfen. Mein Ernährungsprogramm läuft erstaunlich gut – kein rotes Fleisch und Aufschnitt, kein Weizenmehl, keine Schokolade, keine Chips, sehr wenig Zucker aber dafür täglich selbstgemixte Fruchtsmoothies, Nüsse, frisches Gemüse, Dinkel- und Vollkornprodukte und freitags ein Hühnerfilet vom Bio-Bauern – ich bin erstaunlich konsequent und begeistert ob der neuen kulinarischen Kreationen.

Bis die Reha startet, gehe ich nun täglich ins Move-Therapiezentrum in den Fitnessraum, den ich schon seit einigen Jahren besuche. Hinzu kommen zweimal die Woche Taiji beziehungsweise Sitzmeditation. Spaziergänge gehören sowieso zum täglichen Pflichtprogramm.

Noch bin ich nicht da, wo ich einmal war – zehn Minuten auf dem Stepper bringen mich zum Schwitzen, die Gewichte an den Geräten habe ich auf ein Minimum reduziert. Aber das macht nichts. Mit der Zeit werde ich mich steigern.

Wenn ein Erdbeben das Fundament eines Hauses erschüttert und in den Wänden Risse hinterlässt, müssen die Wände repariert und das Fundament mit einem Stahlfundament aufgerüstet werden. Damit das Haus fest steht und einem eventuell weiteren Erdbeben standhält. Und nicht zusammenfällt. Ich arbeite am Stahlfundament.

26.05.2017

Mit einem Taxi nach Paris…

Ich habe mich auf Sie gefreut, sagt der Taxifahrer. Sein afghanischer Kollege hätte mich neulich schon gefahren und ihm gesagt, dass ich so nett sei und man sich gut mit mir unterhalten könne. Man tauscht sich aus unter Hamburgs Taxifahrern. Das Radiologische Zentrum sei bei Taxifahrern bekannt; die Fahrgäste, die man dorthin fährt und abholt, seien zum größten Teil schwierig und schlecht gelaunt, viele lassen ihren Krankheitsfrust an den Fahrern ab.

Sein Kollege hat Recht, wir haben Spaß während der Fahrt und reden noch, als das Taxi schon längst vor meiner Tür gehalten hat. Ein Buch solle ich schreiben, über meine Taxifahrten und Erfahrungen, schlägt er vor. Ich schmunzele.

Schon der gestrige Fahrer, ein Fußball- und Sankt Pauli-Fan, holte mich nicht nur von zuhause ab, er fuhr mich auch wieder zurück; warum eine andere Fahrt annehmen, wenn wir uns so gut austauschen und fröhlich sind, sagt er.

Heute war ich besonders gut gelaunt, ich habe den Rezeptionistinnen und dem medizinischen Strahlenpersonal Pralinen mitgebracht. Heute war nämlich mein letzter Strahlentermin.

21.05.2017

Zuhause.

Wir riefen den Deutschen zu, sie sollten kommen und ihre Verwundeten holen. (…) Daraufhin kam ein Soldat, der das Eiserne Kreuz trug, mutig auf unseren Drahtverhau zu, um einem Verwundeten zu helfen. Ein weiterer folgte ihm, und unter unseren Beifallsrufen trugen sie ihren Kameraden gemeinsam fort. Doch zuvor salutierte der Erste noch und sagte: „Danke, Gentlemen, alle miteinander. Ganz herzlichen Dank. Guten Tag“.
Richard van Emden, Mit dem Feind leben

Es ist früh am Morgen, ich liege im Bett und beobachte die Sonnenstrahlen, die sich durch den Raum bewegen; die weiße Zimmerdecke leuchtet in einem warmen Gelbton, die grauen Wände werden von hellen Streifen durchzogen, die Kristalle am Kronleuchter fangen an, in Regenbogenfarben zu blitzen.
Eine Möwe zieht kreischend ihre Runden über der Elbe, ich höre ihr zu. Ich höre auch in mich hinein, spüre mich langsam und regelmässig atmen, mein Herz klopfen, und ich spüre Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass die Tumore nicht mehr in mir sind und dass ich hier liege und atme.  Und am Leben bin.

19.05.2017

Unterwegs.
Die Taxifahrten zur Strahlentherapie.

Yoyo: What’s you name, man?
Helmut Grokenberger: Helmut Grokenberger. [pointing to his cab license]
Helmut Grokenberger: Here, you can read it. That’s me.
Yoyo: Helmet?
Helmut Grokenberger: Helmut.
Yoyo: That’s your name?
Helmut Grokenberger: Yeah.
Yoyo: Ha ha ha ha ha. That’s a fucked up name to be namin‘ your kid! Helmet! See, ‚cause in English, a helmet would be like, you know, like something you would wear on your head, you know? You a… a helmet!
dialogue from the movie „Night on Earth“

Ihr Name ist wirklich xyz? Ich dachte, die hätten mir ‚was falsches durchgesagt aus der Zentrale! (Lachen)
Nein, antworte ich, alles korrekt gemeldet aus der Zentrale.
DAS höre ich jeden zweiten Tag.

Wussten Sie, dass früher in Afghanistan die Frauen kurze Röcke getragen haben? Das war dort wie in Europa. Und dann kamen die Taliban. Und wissen Sie, wer die unterstützt hat?
Ich weiß es. Die USA. Und auch, dass Afghanistan mal ein wunderschönes Land gewesen sein muss.
Mein heutiger Taxifahrer stammt aus Afghanistan. Er ist mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Hamburg ist für ihn die schönste Stadt – und seine Heimat.

Wenn G20 ist, muss ich mich krankschreiben lassen, mein Urlaub ist verplant, sagt er. Aber er wohne direkt an den Messehallen.
Da haben wir etwas gemeinsam, antworte ich, meine Straße wird während des G20 nur mit Ausweis passierbar sein. Für Anwohner.

Er springt aus dem Taxi, hält mir die Tür auf, ich bedanke und setze mich. Dann dreht er sich zu mir um und fragt, ob ich einen Kaffee oder Tee möchte. An der Armlehne ist ein i-pad installiert, auf dem die Nachrichten laufen. Ich bin beeindruckt.

Soviel Steuergelder seien für die Elbphilharmonie ausgegeben worden. Aber jetzt sind alle stolz auf Hamburgs neues Wahrzeichen. Ob die Kindergartenkinder, die in Richtung Konzerthalle traben, überhaupt von der Plaza gucken können?
Sie können, antworte ich, die Balustrade bestehe aus einem Gitter.

Wir gucken hier immer im spanischen Restaurant mit zwanzig Leuten, erzählt er, wenn EM und WM laufen.
Auch ich schaue die Fussballspiele mit einer Freundin im Portugiesenviertel, aber in portugiesischen Restaurants. Als wir die Reeperbahn entlangfahren, zeigt er auf einen Club, in dem sich die Sankt Pauli-Fans treffen. Früher habe er selbst Fussball gespielt, bei Sankt Pauli, einmal sogar gegen Uwe Seeler. Das läge aber schon lange zurück.

Sie müssen zur Dialyse, fragt er.
Nein, zur Strahlentherapie.
Das ist ja noch schlimmer, antwortet er.
Das weiß ich nicht.

Diesmal biege ich aber richtig ab, sagt der Fahrer, der sich das letzte Mal in Altona’s Einbahnstraßensystem vertan hatte. Ich beruhige ihn, alles ist gut, und ein paar Schritte zu Fuß gehe ich eh gern.

11.05.2017

Im radiologischen Zentrum.

Zu viele Dinge ereignen sich gerade auf einmal. Ich mag es nicht. Ich bin kein Abenteurer, sondern Engländer. Ich möchte, dass die Dinge so bleiben, wie sie immer waren; aber plötzlich verändert sich alles. Es ist fürchterlich.
Forrest Leo, Der Gentleman

Ich habe das hier unterschätzt, sage ich zur Strahlenärztin, ich mit meiner „hier-gehe-ich-straight-durch„-Haltung. Sie lacht. Dass ich mein Leben im Moment nicht „normal“ führen kann, sei normal, ebenso meine permanente Müdigkeit. Meine Hautirritationen -die Verfärbungen, das Stechen und Ziehen im bestrahlten Bereich – sind eine weitere gängige Nebenwirkung. Und überhaupt sehe der bestrahlte Bereich gut aus. Das freut mich.

Heute ist Bergfest, noch ein paar Termine mit voller Bestrahlung, dann werden einige weitere folgen, an denen punktuell der Bereich avisiert wird, wo die Tumore saßen.

Ich erzähle ihr von der Reha, auf die ich mich freue, und von den Schreibfehlern beim NTHL1-Gen, die die Humangenetiker entdeckt haben, aber es in keiner Literatur verzeichnet ist, inwiefern sich dies auf das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, auswirkt. Die Strahlentherapeutin sieht das wie ich: nicht nervös machen lassen, eine Darmspiegelung angehen und gut ist.

Dass mich der Zustand und die Gespräche der anderen Krebspatienten im Wartezimmer belasten, könne sie nachvollziehen, allerdings sehe vieles schlimmer aus als es ist. Sie können hier mit der Strahlentherapie sehr gute Ergebnisse erzielen und den Menschen helfen. Die Brustkrebspatienten haben grundsätzlich eine gute Ausgangsposition.

Und dann sagt sie etwas sehr wichtiges: „Sie sind gesund„.
Die Strahlentherapie diene zur Sicherheit, dass auch wirklich keine Krebszelle, die unter Umständen nach der Operation zurückgeblieben sein könnte, überlebt. Und auch die permanenten Nachuntersuchungen werden aus Sicherheitsgründen gemacht.

Ich bin gesund. *

 
*Und ignoriere jetzt erstmal die Schreibfehler auf dem Gen und die Schilddrüse, die entfernt werden muss, aber das ist eine andere Geschichte.

10.05.2017

Unterwegs.

So übe ich die Bewegung vorwärts und rückwärts, der Rücken lockert sich, ich schwitze, halte das Holz fest im Griff, eine winzige Drehung des Handgelenks genügt, um es aus den Fingern gleiten zu lassen. Nach einer Weile sehe ich, dass die Rechte breiter ist als die Linke, ich wechsele die Hand. So holt ein Teil des Körpers den anderen ein, gleicht Schnelligkeit, Kraft und Müdigkeit aus.
Erri De Luca, Ich bin da

Bei schönem Wetter, so schrieb mein Lehrer, findet Taiji immer im Hinterhof-Garten statt, einfach in das Haus gehen, weiter geradeaus durch und dann in den Garten.

Es ist 18.30 Uhr, das Thermometer liegt bei 8 Grad, der Regen hängt in einer dunklen Wolke am Himmel fest; für meinen Lehrer ist das schönes Wetter.
Ich gehe durch die offene Eingangstür des weißen Altbaus, das in der Schröderstiftstraße liegt, durchquere einen langen Flur und lande in einer unaufgeräumten Küche, in die ich als Fremde irgendwie nicht hineingehöre. Hinter der Küche liegt ein wilder verwunschener Garten mit großen Bäumen, Tannen und Blumen. Im hohen Gras steht eine kleine Gruppe von Taiji-Schülern, man freut sich, mich zu sehen, ich stelle mich dazu. Wir praktizieren Seidenübungen, bevor wir die 19er-Form laufen. Wie immer bin ich der einzige Anfänger in der Gruppe und spätestens, als es heisst: „Die Jadefrau wirft das Weberschiffchen„, bin ich raus. Das macht nichts, ich bin glücklich, hier in diesem wilden Garten zu sein, zwischen meinen Mitschülern und – statt sich auf die riesige düstere Wolkenfront zu konzentrieren, die 19er-Form zu laufen. Nach einer Stunde gehe ich und mache mich auf den Heimweg. Es war anstrengend – die Strahlentherapie nimmt mich physisch und psychisch mehr mit als gedacht – aber ein Schritt zurück in meine Welt.

09.05.2017

Briefwechsel.

Überhaupt scherzt man im allgemeinen über Dinge, vor denen man Angst hat.
Georges Simenon, Im Falle eines Unfalls

I’m not going to discuss work with you as there is nothing out of the ordinary going on and all you need to know is that things are just about “under control“… However you are extremely missed from all sides! I’m very sure you know this… as a team we are all putting extra effort for this time until your recovery and return – WHICH i’m 10000% sure is something we are all looking forward to hahaha. HINT – I’m going to start suggesting to E. about joining Tai Chi 😉

E-Mail meines Grafikers (grundsätzlich ein ruhiger und ausgeglichener Mensch), der durch dezente Hinweise zu verstehen gibt, dass es in meinem Verantwortungsbereich chaotisch zugeht. Ich antworte mit einem link zu einem Video, in dem uns ein kleines Mädchen ganz wichtiges lehrt.

08.05.2017

Unterwegs.

Ist das Leid, so fragt man sich, nicht das einzige auf Erden, was die Menschen wirklich besitzen?
Vladimir Nabokov, Pnin

Ich sitze mit J. auf einer Bank im Schröders Park, wir schauen auf die Elbe, die Kräne und die vorbeifahrenden Schiffe. Hinter uns stutzen Gärtner die Bäume, der Krach ihrer  Laubsägen ist das einzige, was die Idylle stört. Eine alte Frau bleibt stehen und erzählt, dass auf „unserer“ Bank oft Studenten sitzen, die für ihr Examen lernen. Wir lächeln. J. ist Mitte 20 und kommt aus Südkorea; sie studiert in Hamburg Fotografie und hält ihr Notizbuch aufgeschlagen in der Hand. Ich werde Teil ihrer Semesterarbeit sein, die sie in einer Galerie ausstellen möchte. Ihr Thema sind Portraitfotos von Frauen für deren zukünftige Beerdigung. Heute treffen wir uns zu einem Vorgespräch und gehen die Fragen durch, auf die ich ihr später handschriftlich antworten werde.

Die Fragen sind gut, über einige habe ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht, auf andere fällt es mir leicht zu antworten: Wer soll zu meiner Beerdigung eingeladen werden, wer soll nicht erscheinen? Wo und wie möchte ich beerdigt werden? Welche Musik soll gespielt werden? Wie möchte ich in Erinnerung bleiben; wird es vielleicht ein alljährliches Gedenkfest geben? Was möchte ich noch in meinem Leben erreichen? Gibt es eine Begebenheit, an die ich mich immer erinnern werde?

Eine Antwort gebe ich hier schon mal wieder, und das sind Begebenheiten, die ich nie vergessen werde.

Wie jedes Jahr war ich auch im Januar 2016 beruflich in Asien. Ich bin im Büro, gehe ins Bad. Ich wasche mir die Hände und sehe im Spiegel, dass hinter mir zwei burmesische Putzfrauen stehen und mich anstarren. Sie stehen direkt hinter mir, bewegungslos, und schauen mich unverwandt an. Ich ziehe den Lippenstift nach, schaue ein letztes Mal in den Spiegel und drehe mich um. Die beiden schauen mich noch immer an und rühren sich nicht von der Stelle.  „You are beautiful“, flüstert die jüngere der Beiden.

Und ich werde niemals vergessen, was Prof. Dr. M. nach dem Durchlesen des radiologischen Befunds zu mir sagte: „80 bis 90 Prozent Chance auf Heilung, 100 Prozent Hoffnung. Ich verspreche Ihnen, dass wir das hinkriegen.“

27.04.2017

Im radiologischen Zentrum. Strahlentherapie III.

Statt des gelben Balkens (mein Atmen) ist jetzt ein roter Balken auf dem Screen über mir zu sehen. Das dicke grüne Männchen, das dort auch wieder auftaucht, scheint bewegungslos dazuliegen; von ihm sieht man nur den Bauch und die Beine. Sie müssen atmen, sagt eine Stimme aus dem Kontrollraum. Ich vergaß.

26.04.2017

Im radiologischen Zentrum.

Ich betrachtete die Menschen mit einem neuen Blick, verfolgt von der Vorstellung des verwickelten Röhrenwerks, das sich unter ihren Kleidern verbarg.
Simone de Beauvoir, Ein sanfter Tod

Ob er mir die Tasche tragen solle, fragt der Taxifahrer besorgt. Er hat die falsche Abzweigung genommen, in Altona im Einbahnstraßennetz ein Gau. Ich verneine und sage, dass es kein Problem sei, den restlichen Weg zu Fuß anzutreten. Ich schultere meine Cote-D’Azur-Strandtasche, in der sich ein Buch und ein großes zitronengelbes Badetuch befinden und mache mich auf zum radiologischen Zentrum.

Vorm Eingang drängeln sich Taxen und Krankentransporter, an der Rezeption die Kranken. Ich ertrage den Anblick der vielen alten und fragilen Menschen nicht, die reglos und mit trostlosem Blick anstehen. Ich kehre um. Draußen vor der Tür setze ich mich auf eine Bank und beschließe, erst fünf Minuten vor meinem Termin wieder hineinzugehen. Ich fröstele, eine Jacke habe ich nicht dabei. Ein kleiner alter Mann mit Gehhilfe rollt auf mich zu, bleibt stehen, schaut auf den Eingang. Ich frage, ob ich ihm helfen kann. Er winkt ab.

In der Umkleide lege ich mein Badetuch um den Körper, ich sehe aus, als wolle ich gleich in den Ring steigen. Da noch kein Zeichen ertönt, nehme ich die Taiji-Stellung der „Stehenden Säule“ ein, um ruhig zu werden.

Heute gehe es schnell, sagen die medizinischen Mitarbeiter. Das hoffe ich auch. Der Bildschirm über mir zeigt abwechselnd meine Atembewegungen und das dicke grüne Comic-Männchen. Auf meiner Brust sitzt der blinkende Würfel. Der Würfel und das grüne Männchen gefallen mir.

Einatmen, ausatmen, Luft anhalten, dann stehe ich bereits wieder draußen und warte auf mein Taxi. Es kommt, der Taxifahrer winkt, es ist derselbe, der mich gestern gefahren hat. Wir lachen.

 

25.04.2017

Im radiologischen Zentrum.

There were only thirty or forty worms at most, and rather disappointingly they were stuffed in a plastic bag with a bit of compost and appeared not to be moving. „They’re dead, Daddy,“ said Lydia gravely. Claire and I exchanged worried glances. Hers said: „They are, aren’t they?“ while mine said, „How long it is our daughter’s obsession with death going to last?“ „No they’re not,“ I declared eventually. „They’re just resting.“ I flicked through the wormery booklet and was relieved to see that the worms‘ immobility appears to be a natural reaction to the stress of the journey.
Mike Gayle, The To-Do List

Ich merke, dass meine Augen feucht werden, nicht wegen der eventuell toten Würmer, über die ich gerade im Buch lese, sondern wegen der Frau, die man auf einer fahrbaren Bahre in den Warteraum schiebt und neben mir abstellt. Sechs Chemotherapien hätte sie gehabt und solche Schmerzen, erzählt sie den drei medizinischen Begleitern, und keiner hätte ihr gesagt, dass sie Schmerzmittel bekommen könne. Sie könne immer Schmerzmittel bekommen, die stehen ihr zu, antwortet einer der Männer. Niemand soll Schmerzen leiden. Das ältere Paar, das uns gegenüber sitzt, schweigt. Der Mann trägt eine beige Strickjacke, ein Hemd und Cordhosen, an seinem Kehlkopf ist ein Plastikteil fixiert, an dem er immer wieder dreht. Ein paar blasse Gesichter, denen man die Torturen einer Chemotherapie ansieht und ein älteres türkisches Paar komplettieren die Runde. Der türkische Mann hantiert mit drei Kaffeebechern, ich setze meine Brille ab und lege das Buch zur Seite.

Im Bestrahlungsraum werde ich wieder halbnackt fixiert, die Arme liegen angewinkelt über meinem Kopf. Weiter hinten über mir ist ein Bildschirm, auf den ich achten soll, er zeigt meine Atembewegungen an. Ich befolge die Anweisungen aus dem Kontrollraum, atme ein, atme aus, halte die Luft an, sehe das Strahlengerät langsam um mich herum kreisen. Der Bildschirm gefriert. Das Licht geht an. Ich könne mich wieder anziehen und nochmal warten, etwas scheint nicht zu stimmen. Der Physiker wird geholt. Ich gehe zurück in meine Kabine, ein alter Mann, auch er fast nackt, humpelt anstelle meiner in den Strahlenraum. Ich warte. Irgendwann kommt er zurück, ich schaue weg, dann bin ich wieder an der Reihe. Statt dem sich bewegenden gelben Balken auf dem Screen (mein Atmen), der sich ins blaue Feld schieben muss, dann grün wird, wenn ich die Luft anhalte, erscheinen andere Bilder: unter anderem ein dickes grünes Comic-Männchen, kurz überlege ich, ob ich ob der Atem-Aktion zu halluzinieren anfange. Auf das Männchen folgt eine schwarz-weiß-Aufnahme meiner Rippen. Das Bild gefällt mir. Auf einer anderen Fläche über mir spiegelt sich mein Bauch, mein Bauchnabel, meine Taille. Ich erinnere mich an die Worte der Krankenschwester aus dem Krankenhaus: ich würde so zart aussehen. Das stimmt, denke ich. Ich atme ein und aus, halte die Luft an, wiederhole das Prozedere immer wieder, es will kein Ende nehmen, doch endlich geht das Licht an, die medizinischen Kräfte erscheinen. Sie fangen an, weitere Markierungen mit Edding auf mir zu platzieren und mit Pflastern zu fixieren. Blaue Farbe. Grüne Farbe. Rote Farbe.

Nach knapp zwei Stunden steige ich ins Taxi. Der Himmel ist unsicher, ob er der Sonne oder dem Regen den Vorzug geben soll. Ein richtiges Aprilwetter, sagt der Taxifahrer. Und lacht.

24.04.2017

Im Internet.

…er selbst möchte jung bleiben und das Bild alt werden; seine eigene Schönheit sollte nie befleckt werden und das Gesicht auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und seiner Sünden tragen (…) und er selbst wollte allen zarten Schmelz und alle Anmut seiner Jugend bewahren.
Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray

Mein Name ist J. Ich studiere Fotografie in Hamburg.
Dieses Semester arbeite ich an einem Fotobuch. In diesem Projekt geht es um Portraitfotografien von Frauen. Genauer gesagt um ein Portrait für die eigene (zukünftige) Beerdigung.
Welches Bild soll von Ihnen bei der eigenen Trauerfeier gezeigt werden? Welches Foto würden Sie selbst aussuchen? Und wie würden Sie sich gerne darauf präsentieren?
Ich möchte dieses Foto mit Ihnen zusammen machen. Sie können selbst entscheiden, wie und wo. Zum Beispiel an Orten an denen Sie sich gerne aufgehalten haben oder wo Sie schon immer mal gerne hingehen wollten; in Ihrer Lieblingskleidung, zusammen mit Ihren Lieblingsdingen (z.B. dem Fahrrad, Pflanzen, Teller…)  oder zusammen mit Ihrem Haustier.
Wir werden zusammen besprechen was Sie sich vorstellen und dann versuchen, es so getreu wie möglich umzusetzen. Auch möchte ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen über Tod und Beerdigung.
Ihre Anonymität wird gewahrt. Sie brauchen ihren echten Namen nicht zu nennen und dieser wird auch nicht veröffentlicht. Als Dankeschön bekommen Sie die Fotos geschenkt.“

Diesem interessanten Aufruf, den ich eben im Internet entdeckt habe, folge ich. Nächste Woche werde ich auf eine koreanische Studentin der Fotografie treffen und Teil ihrer Semesterarbeit werden.

22.04.2017

Unterwegs.

Die größte Veränderung, die ich seit der Krebs-Diagnose an mir feststelle, ist die Tatsache, dass ich jetzt jedes Wetter mag. Es stört mich nicht, bei acht Grad durch Sturm und Regen zu wandern und zerzaust und durchnässt zuhause anzukommen. Im Gegenteil: ich finde, dass das ein sehr lebendiges Wetter ist. Ich mag Lebendigkeit.

19.04.2017

Im Krankenhaus.

Wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, liefen all diese Gespräche in allen Umwegen und Verästelungen dann doch immer auf die eine Frage zu: „Was machst du mit deinem Leben?“
Matthias Matussek „Die Apokalypse nach Richard“

Sie sehen gut aus, stellt Prof. Dr. M. fest, und das würde ihn für mich freuen; eine vage Handbewegung deutet an, dass er mein Erscheinungsbild im Allgemeinen meint. Er kenne genügend Patienten, die das nicht so wegstecken. Und die Strahlentherapie, fügt er hinzu, werde ich genauso schaffen.

Vorher hat er eine Schere genommen und den Faden, der aus einer Narbe guckte, abgeschnitten (natürlich weise ich darauf hin, dass ich nur auf den Verweis der Strahlen-Ärztin mit dieser Sache bei ihm aufgekreuzt bin und ich mir schon gedacht habe, dass er auch nichts anderes machen wird, als den Faden abzuschneiden). Da ich schon einmal da bin, lasse ich auch nochmal die Schwellung, die sich um die eine Narbe der entfernten Lymphknoten rechts gebildet hat, anschauen; die Schwellung wird – wie auch schon vom Hausarzt und der Strahlenärztin – als normal befunden.

Herzliche Verabschiedung wie immer, dann wieder auf in Richtung Heimat.

Überraschender Anruf des Humangenetikers, der neben den Brustkrebs-Genen BRCA1 und BRCA2 auch weitere Gene untersucht hat. Bei dem Gen NTHL1 sei ein doppelter Schreibfehler aufgetaucht; was das genau für Auswirkungen in Hinblick auf Darmkrebs habe, sei noch nicht genügend erforscht. Man rate mir aber dazu, eine Darmspiegelung zu machen und mich in 2-3 Jahren noch einmal bei ihnen vorzustellen. Ich erbitte einen schriftlichen Bericht, mit diesem werde ich dann weitere Schritte planen. An dieser Stelle ein Dankeschön an meine Freundin M., die auch hier wieder in Vorlage geht und einen Gastroenterologen testen wird. 😉

18.04.2017

Im radiologischen Zentrum.

Der Phantast verbirgt, um auf die Wahrheit zu deuten, er umspielt die eigentliche Geschichte und weicht ihr immer wieder aus. Manchmal ist es nicht das Abwegige, das verwirrt, sondert die unübersehbare Zahl der Möglichkeiten.
Paul Theroux, Der Fremde im Palazzo d’Oro

Es ist 9:30 Uhr, ich liege unter dem CT-Scanner. Mein Kopf, meine Beine und meine Arme sind fixiert, über mir leuchtet ein rotes Licht, und irgendetwas, was ich nicht deuten kann, bewegt sich über mir in dem Gerät. Ich bin allein im Raum. Anweisungen, wie ich ein- und ausatmen soll, ertönen über einen Lautsprecher. Wir üben das Luftanhalten, das 20 Sekunden dauern muss, damit das Herz beim Bestrahlen später weniger belastet wird.  Auf meinem Brustkasten ist ein Würfel mit Leuchtelementen platziert, er wird darauf achten, dass die Bestrahlung stoppt, sobald ich die Luft nicht mehr anhalte.

Ich fröstle, als die Dame nach einer gefühlten Ewigkeit wieder in den Raum tritt. Das CT sei fertig, ich müsse noch etwas in der jetzigen Position verharren. Meine Arme, über dem Kopf angewinkelt, werden schwer, meine Narben fangen an zu spannen. Sie schaut in ihren Computer, kommt auf mich zu und fängt an, meinen Oberkörper zu markieren. Ob das ein Edding sei, frage ich und bin verblüfft, als sie bejaht. Neben dem ganzen High Tech erscheint es mir profan, dass sie mit nem Filzer auf mir rumzeichnet. Mehr als die Lage des Würfels kann sie allerdings nicht einzeichnen, der PC hat den Geist aufgegeben, er wird runter- und wieder hochgefahren, während ich immer noch in unbeweglich-unbequemer Stellung verharre. Dann müssen wir die anderen Markierungen beim ersten Strahlungstermin anlegen, sagt sie entschuldigend. Mir ist das lieb, mir ist kalt und meine angespannten Arme und Narben mögen auch nicht mehr hier bleiben.

Ich verlasse die Radiologie; draussen regnet es.

22.03.2017

Im Krankenhaus.

Beim Aufwachen erzähle ich der Anästhesistin, dass ich zuhause sei und nicht im Krankenhaus. Das erzählt sie mir später, als sie mich auf der Station besucht.

Ich mache ihm Ärger, sagt Prof Dr M. augenzwinkernd, als ich mit nem Blutdruck von 70:xy und weiteren Problemen wegklappe . ER mache MIR Ärger, entgegne ich. Humor kann ich in jeder Lebenslage.

Sie sind so jung und zart, sagt die Schwester bei der Kontrolle. Das ist nett. Ausserdem sind wir dasselbe Sternzeichen.

Ich hab sie hier alle sehr gern.

Am Schönsten ist aber das Video, welches mein Kollege T. mir von seinem wunderhübschen Sohn aus Asien schickt, den seine Frau J. heute geboren hat. Das schaue ich ganz oft an.

Das Leben ist schön.