01.02.2019

Unterwegs.

Dear colleagues,
please kindly note that we are organizing an event for World Cancer Day which will be held at M on 4th of February.
Professor Dr. D (Dental Surgeon, Professor and Head of Department of Oral medicine) and Dr. M (AR Hospital) will speak about Oral Cancer, Breast Cancer and Ovarian Cancer. We would like to invite all business units to attend.

Ich bin überrascht und auch etwas gerührt über die Nachricht im Posteingang, die aus unserem Büro in Südostasien kommt. Die asiatische Geschäftsleitung organisiert einen Event zum World Cancer Day und lädt einige hundert Kollegen dazu ein. Ich schreibe zurück, lobe sie ob dieser ungewöhnlichen Aktivität, wundere mich insgeheim aber auch etwas, da Krebs eher ein Problem der ersten Welt ist, in der die Menschen zuviel Zucker und Junkfood essen und sich zu wenig bewegen (verkürzt ausgedrückt). Im nächsten email folgt die Info, daß vor allem die Kollegen erscheinen mögen, die Betelnüsse kauen. Betelnüsse gelten als krebserregend. Also ist Krebs doch kein ausschließliches First World-Problem, denn Betelnüsse kauen dort fast alle. Ich weise meine Abteilung vor Ort an, Fotos zu machen und einen Artikel über den Event zu schreiben, den wir im nächsten Newsletter veröffentlichen können.

Man schickt mir vorab die Präsentation der Professoren; ein, zwei Schockbilder, Texte in burmesischer Kringelschrift, aber auch Fotos, wie man sich die Brust abtastet (was schon wirklich sehr offen für die dortige Kultur ist, vor allem in einer öffentlichen Präsentation) und icons, die Meditation, Bewegung, Rauchen (durchgestrichen), Alkohol (durchgestrichen), Junkfood (durchgestrichen), Gemüse (nicht durchgestrichen) darstellen. Das finde ich jetzt mal eine wirklich gute Aktion.

Eine weitere Einladung ist in der Post, ‚mein‘ Krankenhaus lädt zum Informationstag Brustkrebs Hamburg 2019 ein.

Als ich mich auf den Weg ins öffentliche Bad mache, fängt es an zu schneien. Schneeflocken irren durch den Dampf, der aus dem Becken steigt, mein Blick irrt im Becken umher und sucht die pinke Badekappe. Meine Schwimmfreundin fehlt.

 

19.6.2018

Unterwegs / Im Krankenhaus.

Wenn K. an den Landungsbrücken mit einem Blumenstrauß vor mir steht und zu weinen anfängt.
Wenn ich gerührt darauf hinweise, daß ich am Leben und gesund und munter bin.
Wenn die portugiesischen Kellner in der Tapas-Bar die Hand auf’s Herz legen und ihre Nationalhymne mitsingen.
Wenn die Leinwand einen blauen Warnhinweis anzeigt, daß in 10 Sekunden das Bild ausfällt.
Wenn alle Gäste laut bis 0 ‚runterzählen und das Bild weg ist.
Wenn die Kellnerin auf unseren Tisch klettert um das Gerät wieder in Gang zu bringen.
Wenn die Iraner mit beflaggten Autos durch das Portugiesenviertel fahren.
Wenn wir uns mit den Portugiesen freuen.

Wenn H. beim Taiji sagt, daß sie den Unterricht so wunderbar findet und sie glücklich macht.
Wenn ich ihr zustimme.

Wenn ich mir Sorgen mache, da ich meine, einen neuen Knoten zu spüren. Sicher bin ich mir nicht.
Wenn ich im Krankenhaus zur Nachsorge bin und die Ärztin Entwarnung gibt.
Wenn ich den nächsten Doppeltermin im Krankenhaus für den September abmache.

Wenn ich danach zum Schwimmen gehe, da das Bad nur 5 Minuten entfernt liegt.
Wenn es regnet und die Sonne nicht strahlt aber ich strahle, weil ich so fröhlich bin. Und erleichtert.

Wenn ich nachher – wie nach jedem Nachsorge-Termin – wieder an die Elbe gehen und ein Glas Sekt trinken werde.

Wenn wir leben.

27.3.2018

Im Krankenhaus.

Beidseitig, sage ich. Die Dame an der Rezeption schaut auf. Ich kenne diese Reaktion schon. Auch die medizinische Assistentin ist irritiert und fragt nach, ob eine beidseitige Mammographie gemacht werden soll. Das mache Sinn, antworte ich, und frage mich, ob man die Überweisung und den von mir ausgefüllten Fragebogen nicht angeschaut hat. Beidseitig Brustkrebs. Beidseitige Mammographie. Danach geht es zur Radiologin zum Ultraschall: die zwei kleinen Knoten sind auszumachen, die sich schon seit der Strahlentherapie im linken Narbengebiet befinden und ungefährlich sind. Es ist alles ok. Wer denn operiert habe, fragt sie noch, auf der rechten Seite sei keine Operationsnarbe auszumachen – dabei habe ich dort sogar zwei Narben. Das fände ich auch ziemlich cool, dass man dort nichts sehen könne, Prof. Dr. M. werde ich ewig dankbar sein. Nicht nur ob des guten OP-Ergebnisses, sondern vor allem für die richtigen Worte im richtigen Moment.

Vom Erdgeschoss gehts in die Dachstube zum nächsten Termin, diesmal bei der Gynäkologin.
Zum ersten Mal registriere ich, obwohl ich schon so oft hier war, dass man vom Wartezimmer auf den neuen Teil des Gebäudes schaut: eine Ärztin sitzt am Schreibtisch, eine Frau mit Mütze ist beim Arztgespräch, zwei weitere Frauen bekommen gerade ihre Chemo mit Kühlkappe. Ich sehe sie nur aus der Ferne, bin ihnen aber emotional sehr nah: ich fühle mit ihnen, und gleichzeitig bin ich dankbar, dass ich mit zwei blauen Augen davongekommen bin.

Frau Dr. Z. kommt ins Wartezimmer und holt mich ab. Wer schon so früh aus der Radiologie zurück ist, der komme hier auch gleich früher dran. Sie untersucht mich nochmal sehr genau, freut sich mit mir über die Ergebnisse und die gute Optik, um dann ungläubig zu schauen. Das Basecamp sei aber sehr hoch gelegen, sagt sie, als ich ihr erzähle, dass ich jetzt mehrere Asienreisen vor mir habe und nicht sicher sei, wie ich mit der Tamoxifen-Einnahme verfahre, sollte es Magenbeschwerden oder Übelkeit geben (Antwort: einfach weiter einnehmen). Ich erkläre zum x-ten Mal, dass ich nicht klettern werde und es ja eine Akklimatisierung in Lhasa gebe – allerdings läge das auch schon auf 3.600m. Aber ich jetzt alles mache, was ich machen möchte. Vermutlich bin ich etwas extrem mit Reisen in die Antarktis und zum Everest, aber es ist das, was ich will.

Wir legen den nächsten Nachsorge-Termin zwischen die beiden anstehenden Asienreisen, dann mache ich mich auf ins Schwimmbad. Ich ziehe draußen meine Bahnen, bin dankbar und fröhlich, schenke mir unterwegs noch einen Blumenstrauss und beschliesse, den Nachmittag mit einem Prosecco an der Elbe zu verbringen, bevor ich dann angeheitert zur Meditation gehen werde.

1 Jahr und 5 Tage krebsfrei. Das Leben ist schön.

22.2.2018

Heute vor einem Jahr.

Heute vor einem Jahr sitze ich um 8.45h in der Praxis einer nervösen Gynäkologin.

Heute vor einem Jahr werde ich nach einer Untersuchung ohne viel Worte wieder ins Wartezimmer geschickt, mit einer Überweisung zum Radiologen in der Hand. Auf der Überweisung lese ich „Verdacht auf Mammakarzinom“.

Heute vor einem Jahr wird mir die Überweisung nach ein paar Minuten wieder weggenommen und durch eine andere ersetzt, auf der „Suspekter Tumor“ steht.

Heute vor einem Jahr stehe ich fassungslos vor einer Praxis, langsam realisierend, was die Worte der ersten Überweisung bedeuten.

Heute vor einem Jahr sitze ich weinend beim Bäcker neben der Praxis.
Heute vor einem Jahr fahre ich statt ins Büro nach Hause. Bus, Bahn oder Taxi – ich kann mich nicht erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin.

Heute vor einem Jahr habe ich „Brustkrebs“ gegoogelt. Und mir nach fürchterlichen Bildern und den mir ins Auge springenden Worten Tod, Schmerz, Lebenserwartung das googeln verboten.

Heute vor einem Jahr bin ich der Meinung, dass ich nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Eine fixe Idee, die sich festgesetzt hat. Eine fixe Idee, die mir Todesangst macht.

Heute vor einem Jahr sehe ich vor meinem inneren Auge meine Tante, die an Brustkrebs gestorben ist. Wie schön, dass ich Dich noch einmal sehe, sagt sie auf einem Familientreffen, bereits vom Tod gezeichnet.

Heute vor einem Jahr brechen existenzielle Fragen über mich herein, die ich nicht zu meiner Zufriedenheit beantworten kann.
War es das schon?
Kann das wirklich alles gewesen sein?
Hast Du das gemacht, was Du in Deinem Leben machen wolltest?
Was wird bleiben?

Heute vor einem Jahr erkläre ich der Internistin, dass sie mich nicht ins Krankenhaus zur Schilddrüsen-OP überweisen kann, da mir etwas dazwischengekommen sei. Heute vor einem Jahr breche ich weinend bei der Internistin zusammen.

Heute vor einem Jahr hat mir die gynäkologische Praxis einen Termin beim Radiologen abgemacht, bei dem ich eine Woche später vorstellig bin – um festzustellen, dass man mir den Termin bei einem anderen Radiologen abgemacht hat. Den Zettel mit der Adresse, den mir die Praxis doch mitgegeben hatte, halte ich in der Hand. Ich bin verzweifelt.

Heute vor einem Jahr habe ich eine Woche durchgeweint.

Heute vor einem Jahr ist die Welt schwarz.

Heute vor einem Jahr hat sich vieles verändert.
Zum Guten.

14.2.2018

Unterwegs.

Ich gehe die Treppe des Rotklinkerhauses hoch und biege in den Gang mit den gelbgestrichenen Wänden ab. Rechts ist das Badezimmer, daneben der Aufenthaltsraum mit der Bücherwand, auf der anderen Seite liegen das Schwestern- und die Patientenzimmer. Hier habe ich vor knapp einem Jahr gelegen, sage ich zu C. und zeige auf eine Tür, hinter der jetzt drei andere Frauen liegen. Flashback. Wir gehen weiter durch eine Glastür und stehen kurze Zeit später im Konferenzraum des Krankenhauses.

C. aus meiner Meditationsrunde und ich besuchen heute einen Vortrag über Ernährung bei Brustkrebs. Dr. K., der bei mir die Stanzbiopsien vorgenommen hat und seine TCM-Kollegin erläutern in zwei Stunden, was gut ist und was nicht. Einer Meinung sind sie nicht immer, und auch meine Infos der Humangenetiker und der Reha-Ernährungsvorträge weichen in einigen Punkten ab. Trotzdem ist es sehr lehrreich, C. und ich nicken uns öfters bestätigend zu, denn wir stellen fest, dass wir gut aufgestellt sind. Auch die Wichtigkeit des regelmässigen Sports wird wieder mal erwähnt. Ich merke mir nicht die ganzen Begründungen, wieso was gesund ist oder auch nicht, und zum Teil hängt das auch davon ab, ob man es mit einem triple negativ Karzinom oder einem hormonrezeptorpositiven Tumor zu tun hat.

Ich notiere für mich als gut:

Birkenzucker/Xylit, Pure Encapsulation (Vitamin D), Sesam, Weizengras, Hummus, Tahini, Zwiebelschmalz, Weintrauben mit Kernen, Blaubeeren, Auberginen, Granatapfel mit Kernen, Maitake, Shitake-Pilze, Rosenkohl, Nüsse, Haferflocken, Chinoa, Amaranth, Kurkuma, Brokkoli, Brennesselextrakt, Mango, Ananas, Papaya, grüner Tee (aber nicht zur Tamoxifen-Einnahme).

Nicht gut:

Zucker generell, Sojajoghurt, Soja, Käse, Kuhmilch, Ginseng, Fisch, Schalentiere (es sei denn man mag Plastik und Schwermetalle), Leitungswasser, Wasser aus Plastikflaschen, Glukose-Fruktose-Sirup (auch im Brandt-Zwieback enthalten), Wurst, Fleisch.

Da wir so etwas wie ein Fachpublikum sind, brauchen Süssigkeiten, Chips, Frühstücksspeck oder Fertigprodukte nicht erwähnt werden.

Ok sei ein Glas Wein, Dr. K. fängt an von Spaghetti mit Parmesan zu schwärmen, mittlerweile ist es 19.15h, und ich bekomme Hunger. Zuhause mache ich mir Vollkornnudeln mit Tomaten und Basilikum, Parmesan hätte ich gern, habe ich aber nicht. Ich packe die Sporttasche. Morgen nach der Arbeit steht wieder der Fitnessraum auf dem Programm.

11.2.2018

Unterwegs.

Ich sei mir nicht sicher, ob er sich an mich erinnern könne, aber er habe mir vor knapp einem Jahr das Leben gerettet. Prof. Dr. M. kommt strahlend auf mich zu und gibt mir die Hand. Natürlich könne er sich an mich erinnern, antwortet er. Und er hätte ja nur etwas geholfen, mein Leben zu retten. Ich sähe gut aus, fügt er hinzu und schaut mich an. Ich erzähle ihm von meinen Lebens-Optimierungsmaßnahmen, der Ernährungsumstellung, dem Sportprogramm und der Arbeitszeitreduzierung. Sie werden gesund bleiben, meint er. Ich freue mich. Wir unterhalten uns noch etwas,  und zum Abschied sagt Prof. Dr. M., dass ich, sollte etwas sein, mich jederzeit bei ihm melden könne.

U., meine Schwester im Herzen, die ich in der Reha kennen gelernt habe, und ich sind heute beim Informationstag Brustkrebs Hamburg 2018, der von unserem Krankenhaus veranstaltet wird. Mit circa 350 Patientinnen, Angehörigen und Interessierten hören wir uns Vorträge an: über Brustkrebs und Vererbung, die Bedeutung der Pathologie, Haarschonung unter Chemotherapie, neue Therapiekonzepte und über Nachsorge. Es ist sehr interessant, auch wohin die Therapien der Zukunft gehen werden: weg von Operationen, hin zu Chemo und medikamentöser Behandlung. U. und ich sind da allerdings derselben Meinung: wir würden uns ohne zu Zögern wieder operieren lassen, wenn wir dadurch eine Chemo umgehen können. Aber ich bleibe ja gesund, denke ich. Auch wenn Prof. Dr. M. kein Wahrsager ist, glaube ich seinen Worten. So wie ich damals auch seinem Versprechen geglaubt habe, „dass wir das hinkriegen“. Und er sein Versprechen gehalten hat.

Danach gehen U. und ich im Grindelviertel vietnamesisch essen und gönnen uns noch einen Tee in dem Café, in dem sie sonst arbeitet. Sie erzählt mir vom Qi Gong, mit dem sie wieder gestartet-, und einer Tanzgruppe, der sie beigetreten ist. Ich erzähle von meinen Herzis und unseren Federball- und Tischtennisspielen. Das könnten wir doch auch mal machen, wenn es wärmer wird, schlägt U. vor. Im Innocentiapark gebe es Tischtennisplatten, und Platz für Federball sei dort auch. Sehr gerne, antworte ich und freue mich auf den Frühling.

30.12.2017

Rückblick. Ausblick.

Dieses Jahr war ein besonderes Jahr. Es hat mich herausgefordert. Es hat mich nicht bezwungen. Es hat mir gezeigt, dass ich innehalten und meinen Kurs ändern muss. Es hat mir klargemacht, was ich will und wozu ich fähig bin.

Sie haben Krebs. Wir sprechen über Leben oder Sterben, sagt Prof. Dr. M., als ich ihn im Krankenhaus frage, ob ich nun krankgeschrieben werde.
Sätze, die sich einprägen, Sätze, die mir in einer Plötzlichkeit klarmachen, dass mein Leben endlich ist. Und Sätze, die mir bewusst machen, dass ich überhaupt nicht sterben will.
Weil ich – und das muss ich mir eingestehen – noch nicht all das gemacht habe, was ich eigentlich in meinem Leben machen wollte. Weil man es ja später machen kann. Um auf einmal festzustellen, dass es eventuell kein später gibt. Es sind existenzielle Fragen, die mich erschüttert und ins Wanken gebracht haben. Und die mir umso deutlicher aufgezeigt haben, dass ein Kurswechsel stattfinden muss.

Ich bin dankbar, dass ich das Drama sehr schnell und sehr gut verarbeitet habe. Das sehe nicht nur ich so, sondern auch die Ärzte und die Psychologin aus dem Sanatorium, mit der ich einige Stunden verbracht habe.

Ich bin dankbar, dass mir Prof. Dr. M. mein Leben gerettet und mir die Todesangst, mit der ich in den ersten unklaren Tagen gekämpft habe, genommen hat. Ich verspreche Ihnen, dass wir das hinkriegen. An diesen Satz habe ich mich geklammert, er war der Wendepunkt im Drama. Und Prof. Dr. M. hat sein Versprechen gehalten.

Ich weiß, dass ich selbst aktiv sein muss, um die Aussicht auf ein Folgedrama zu minimieren, und ich weiß, dass auf meine Disziplin und meinen Kampfgeist Verlass ist: mein tägliches Sportprogramm bringt mir richtig Spaß, meine Ernährungsumstellung ist mir weniger schwergefallen als befürchtet, meine reduzierte Arbeitszeit auf 36 Stunden die Woche (und keine weiteren Überstunden) ist mein persönlicher Luxus, der mich noch immer stressfrei hält. Ich bin aktiv und fit wie seit Jahren nicht mehr.

Ich hatte Krebs. In der Vergangenheitsform passt es zu mir, denn ich schaue nach vorn.

Ich kann mittlerweile sagen, dass dieses Jahr ein gutes Jahr war.

Ich bin dankbar, dass die ausgewählten Freunde, denen ich vom Krebs erzählt habe, sehr gute Krisenmanager sind und mich unaufgeregt durch turbulente Zeiten begleitet haben und immer für mich da waren.

Ich bin dankbar, dass ich viele neue Menschen auf meiner Reise durch das Jahr kennen gelernt habe. Ganz besonders dankbar bin ich für meine beiden Schwestern im Herzen, die ich seit unserer Begegnung im Sanatorium noch immer jeden Monat treffe.

Ich bin dankbar, dass ich in einer Dienstag Nacht in Berlin in einem Club stand und meiner Lieblingsband zugejubelt habe. Und sie Ende des Jahres nochmal in Edinburgh auf der Bühne sehen konnte, während wir wild vor dieser tanzten. Ich bin mehrmals auf Sylt am Strand entlanggewandert und habe mich über die tosenden Wellen gefreut. Ich bin spontan nach Wien gereist, um morgens um 10.00h ein Glas Sekt über den Dächern der Stadt zu trinken und auf das Leben anzustoßen. Ich bin in die Antarktis gefahren und habe den schönsten Platz der Welt gefunden. Ich habe mit meinen kleinen Patenkindern gespielt und gelacht.

Heute war ich wieder draußen schwimmen, bei drei Grad Aussentemperatur und klarer Luft. Heute war ich wieder glücklich.

Und im nächsten Jahr werde ich weiter mein Leben leben und mich auf Wien, Amsterdam und Asien freuen. Und auf die vielen Dinge, die das Leben ausmachen.

19.12.2017

Im Krankenhaus.

Wie es mir ginge?
Gut.

Was seit unserem letzten Brustkrebs-Nachsorgetermin passiert sei?
Mammografie, Sonographie  beim Radiologen (ohne Befund), Darmspiegelung (ohne Befund), Knie-MRT (nix Schlimmes), Augenarzttermine (ohne Befund). Projekt Schilddrüse auf’s nächste Jahr verschoben.

Wie ich das Tamoxifen vertrage?
Gut. Die Hitzewallungen nehme ich als positives Zeichen, dass die Tabletten wirken.

Ob ich abgenommen hätte?
Nein. Ich halte mein Gewicht. Gesunde Ernährung, viel Sport.

Wieviel Sport?
Fünf- bis sechsmal die Woche.

Nun schaut meine Ärztin auf.
Ob ich ‚vorher‘ auch soviel Sport gemacht hätte?
Nein. Ich habe regelmässig Sport gemacht, aber nicht so viel.

Was ich denn genau mache?
Ich zähle auf: Montag Taiji – Dienstag Dehnübungen und Meditation – Mittwoch Herzsport – Donnerstag Geräteraum – Freitag Schwimmen – Sonntag Schwimmen. Positive Reaktion.

Der heutige ausführliche Check ergibt: alles ist gut.

Jetzt frage ich. Kann ich in höher gelegene Gebiete fahren? Wegen der reduzierten Anzahl an Lymphknoten?
Kein Problem, antwortet sie.

Wir machen für Ende März einen Doppel-Nachsorgetermin ab: Erst zum Radiologen und eine Stunde später bei ihr.

Dann gehe ich schwimmen. Und überlege, wie ich den Mount Everest, das Ziel ist das Basecamp (Northface), angehe.

26.11.2017

Antarktis. Tag 2

Ich wache auf. Es ist Nacht, meine Kabinengenossinnen, Y. aus Israel und J. aus Kalifornien, schlafen. Es stürmt heftig, während wir die Drakepassage durchqueren. Die Kabinenwände knarren, zwei Flaschen rollen über den Boden, Schubladen gehen auf und zu, das Schiff scheint auf Wellen zu schweben um dann immer wieder in die Tiefe des Meeres zu stürzen. Ich taste mich vorsichtig aus dem Bett und sichere die Flaschen.

„Especially the bathroom door is evil“, sagte die Expeditionsleiterin im Briefing. Das stimmt, die Tür fliegt mir sofort aus der Hand, als ich sie öffne. „Eine Hand immer am Schiff“, auch das ist ein guter Tipp, da man von einer Seite auf die andere geschleudert wird. Um 5.00h nehme ich die zweite Reisetablette, um 8.00h gehe ich in den Frühstücksraum.

Die Flure sind den Wänden entlang mit Spucktüten bestückt.

Der Frühstücksraum erinnert an ein Chinarestaurant; auf den Tischen stehen chinesische Flaggen, an den Decken und Fenstern hängen rot-gelbe Lampions. Nur von den Chinesen fehlt jede Spur. Alle seekrank, konstatiert der Kellner.

Mit 14 anderen Gästen nehme ich am Zodiac-Briefing teil, das eine Pflichtveranstaltung ist. Aufgrund der Tatsache, dass die anderen 93 Gäste flachliegen, muss es morgen wiederholt werden.

Vor den Fenstern türmen sich meterhohe Wellen, ein Albatros fliegt vorbei. Ich gehe auf Deck 5 nach draussen, die anderen Decks wurden aus Sicherheitsgründen gesperrt. Dort treffe ich R. aus der Schweiz und L. aus China, der uns die Vögel, die hier vorbeifliegen, erklärt. Die Luft ist kalt, wir halten uns an den Wänden fest.

Das Mittagessen lasse ich ausfallen, nehme die nächste Reisetablette und lege mich ins Bett, meinen jungen Zimmernachbarinnen geht es schlecht und frequentieren das Bad.

Um 15.00h beschliesse ich, einen weiteren Rundgang zu machen. In der Kabine gegenüber, in der drei ältere California Girls untergebracht waren, wird das Fenster gesichert und zugenagelt. Ich hangele mich an den Wänden entlang. Crewmember stehen an jeder Ecke, Gäste sind kaum zu sehen. Dafür haben sich die Spucktüten grosser Beliebtheit erfreut. Sie sind fast alle verschwunden.

Später verbringe ich den Nachmittag mit einem Kanadier und einem Schweizer in der Club Lounge, wir plaudern stundenlang, den Horizont fest im Blick. Zwischendurch trinken wir Tee und knabbern Kekse, was anderes kann man bei dem Sturm auch nicht tun. Wir seien die einzigen Gäste, die noch so fröhlich sind, stellt die Meeresbiologin fest.

Das ändert sich beim Dinner im Restaurant, die Luken sind geschlossen, die Gläser kippen von den Tischen. Ich schnappe meinen Teller und wanke zurück in die Club Lounge. Mit Blick auf den Horizont geht es mir besser. Noch bin ich ohne Spucktüte ausgekommen.

25.11.2017

Antarktis. Tag 1

Habe draussen im Whirlpool, mit Blick auf die schneebedeckten Berge, die ersten Kontakte geknüpft:

G., 46 Jahre, kommt aus Südengland und reist seit einigen Monaten durch Südamerika. M., 72 Jahre, ist Kroate und lebt in Australien. Ich hatte ihn gestern als Ami verifiziert, als er im Pool verlauten liess, dass sein Pool zuhause grösser sei, er ihn aber nicht nutze, da sein Haus am Strand liege. Er dachte wiederum, dass ich Russin bin.

Die beiden Herren, die sich bis gestern auch noch nicht kannten, teilen sich eine Kabine. M. teilt mir dazu sofort mit, dass er aber nicht schwul sei (was mir egal ist).

Meine Zimmergenossin ist wohl eine 66-jährige Schweizerin, „we call her Sally“, sagt G., der ihren Namen zu kompliziert fand. Ich bin gespannt auf Sally; während ich mit G. plaudere, rückt M. immer dichter an mich ran. Wessen Bein er da gerade neben sich habe, fragt er – seines, antwortet G. Das kann ja noch lustig werden.

Der Rest der Reisetruppe besteht aus 80% Chinesen, die einen Dolmetscher dabei haben. Die Chinesen tragen Neonfarben und pinke Turnschuhe. Die anderen 20% sind Amerikaner, Australier, Briten, eine Schweizerin, ein Kroate und ich.

Ich steige aus dem Whirlpool, ziehe den Bademantel über und schwimme drinnen noch einige Bahnen.

Und freue mich sehr auf den Whirlpool an Deck der kleinen MV Sea Spirit.

24.11.2017

Unterwegs.

Das kleine Mädchen, das mir im Flieger vom Sitz vor mir zulacht und winkt und sich immer wieder versteckt.

Der Argentinier, der morgens beim Aufwachen an meinen Arm tippt und zum Fenster deutet; die Sonne geht auf, der stahlgraue Himmel ist mit einem leuchtend roten Band durchzogen.

Der jüdische bandoneonspielende Taxi-Guide, mit dem ich auf der Fahrt vom internationalen zum nationalen Flughafen in Buenos Aires auf italienisch plaudere: über Fussball, Merkel und das verschwundene U-Boot.

Die Luxemburger auf dem Flug nach Ushuaia eine Reihe hinter mir, die zwischen den schneebedeckten Bergen, über die wir erschreckend tief fliegen, die Landebahn ausmachen.

Der Taxifahrer, der mich zu meinem Hotel in die Berge fährt und wir dabei Tangos hören. Er könne auch tanzen, sagt er und schaut mich an.

Nach über 33 Stunden erreiche ich mein Ziel: Ushuaia, Fin del Mundo, das Ende der Welt.

Es ist so schön, wieder hier zu sein. Morgen Nachmittag geht es auf‘s Schiff.

19.11.2017

Reisevorbereitung.

Ich stehe im Wohnzimmer, um mich herum ein großer Koffer, ein Koffer fürs Handgepäck, eine Handtasche, eine Kamera und ein Rucksack. Dazwischen und darin ein Haufen Klamotten und Utensilien, die ich für meine Reise benötige. Die Hälfte der Ausrüstung hängt allerdings noch feucht auf der Wäscheleine. Schon jetzt wird klar, dass das Packen eine Herausforderung wird. Ich wühle nochmal durch den großen Koffer, da ich der Meinung bin, dass der Adapter schon im undefinierbaren Haufen deponiert sein  müsste. Ich habe ihn vor Augen, wie er im Koffer liegt. Oder hab ich ihn in Koffer-Erinnerung vom letzten Wochenende, wo ich ihn mit nach Edinburgh genommen habe? Im Schränkchen, wo er sonst ist, ist er jedenfalls nicht.

Ich werfe meine Medikamente auf den Haufen „Handgepäck“, sicher ist sicher. Der Adapter taucht nicht auf, da kann ich rumkramen wie ich will. Auf den Handgepäckstapel – und zusätzlich in den großen Koffer – kommen noch Walnüsse und Studentenfutter. Ich esse nachts gern eine Kleinigkeit.

Da mein Doutzen Kroes I – Bikini etwas aus der Form geht und die Hose von Doutzen Kroes II arg ausgeleiert ist (das habe ich heute wieder im schicken Spa festgestellt), habe ich nachgeordert und hoffe, dass die neuen Doutzen’s noch vor Abreise geliefert werden.

Mit dem Packen komme ich nicht so recht vorwärts: ich hole meine Wanderstiefel aus dem Schrank und teste diese mit den extrem dicken Antarktis-Socken. Wenn ich die Tennissocken weglassen würde, würde ich auch hineinpassen, denke ich. Ich setze nochmal die neuen Mützen auf, ziehe die Handschuhe und die Skihose an und fühle mich sehr abenteuerlich.

Dann entdecke ich – neben den ganzen Richtlinien für Verhaltensmaßnahmen – noch die FAQ’s fürs Campen.

Ist Antarctica Camping das Richtige für mich?
Antarctica Camping ist die richtige Wahl für alle, die bereit sind, den Elementen einer kalten Polarnacht
zu trotzen.
Bin bereit.

Die Teilnehmer müssen in guter gesundheitlicher Verfassung und auch relativ mobil sein, um sich nicht unnötigen Risiken auszusetzen.
Ich ignoriere, dass ich offiziell schwerbehindert bin. Ich fühle mich gesund und munter und baue auf das Wort „relativ“.

Natürlich müssen Sie Ihre Abenteuerlust mitbringen – so werden Sie ganz bestimmt eine unvergessliche Polarnacht erleben (wenn auch vielleicht nicht allzu viele komfortable Schlafstunden). Sogar routinierte Camper finden, dass Zelten auf Eis und Schnee etwas Gewöhnung und Zeit bedarf, bevor man eine halbwegs komfortable Schlafposition findet. Abenteuerlustig: ✔️. Da ich ab und an statt im Bett auf dem Parkettfußboden nächtige, erwarte ich keine Probleme.

Sicherheit ist unsere oberste Priorität. Sie sollten sich jedoch bewusst sein, dass Antarctica Camping in einer gewissen Entfernung vom Schiff, in einer der entlegensten und unwirtlichsten Gegenden der Welt durchgeführt wird! Daher kann natürlich ein gewisses Risiko nicht ausgeschlossen werden. Note to myself: es gibt keine Eisbären. An meiner Schlafstelle wird eine kleine rote Flagge stehen, falls ich einschneien sollte. Für Antarctica Camping sind eine gute Kondition und Ausdauer unbedingt erforderlich. Spätestens jetzt weiss ich, weshalb ich sechs Mal wöchentlich Sport mache.

Natürlich müssen Sie dazu noch die zusätzliche Herausforderung von Schnee, Eis und Minustemperaturen addieren! Sollten Sie schon seit langer Zeit nicht mehr gezeltet haben und auch nicht regelmäßig einer aktiven Betätigung im Freien nachgehen, empfehlen wir Ihnen, Ihren Hausarzt zu konsultieren.Vorgestern bin ich bei 6 Grad Aussentemperatur wieder im Freien geschwommen. Wie jeden Freitag. Und den Vermerk mit dem Hausarzt ignoriere ich geflissentlich. Antarctica Camping beginnt nach dem Abendessen, welches Sie noch an Bord einnehmen, und endet mit dem Abholen frühmorgens. Eine Rückfahrt zum Schiff während der Nacht ist nur im Notfall möglich! Planen Sie daher, die gesamte Dauer der Aktivität in der Camping-Gruppe im Freien zu verbringen. Bitte beachten Sie außerdem, dass sich die geplante morgendliche Abholzeit aufgrund von unvorhergesehenen Wetter- und/oder Eisverhältnissen verzögern kann und sich somit die Dauer des Camping-Aufenthalts im Freien unplanmäßig verlängern kann. Unplanmässige Verlängerung… es wird ganz bestimmt abenteuerlich.

Sie bekommen einen warmen, weichen Schlafsack (bis -18°C / 0°F), einen frisch-gewaschenen Innenschlafsack sowie eine Iso-Matte.  Like!

Die Camping Guides werden einfache Camp-Toiletten in einem relativ ungestörten Bereich in kurzer Gehdistanz vom Campingplatz aufstellen und diese klar kennzeichnen. Die geltenden Gebote in der Antarktis schreiben vor, dass ALLE Abfallprodukte am Ende des Campingaufenthalts wieder zurück zum Schiff gebracht werden müssen. Daher empfehlen wir noch vor dem Verlassen des Schiffes von den warmen Toiletten an Bord Gebrauch zu machen. CRITICAL PATH!!!Ich gehe nachts immer ins Badezimmer. Ausserdem bin ich Orientierungslegastheniker. Sehe mich bereits von den „einfachen Camp-Toiletten“ in die falsche Richtung wegmarschieren, irgendwo Richtung „Whiteout“, ins Nirgendwo, einem nicht vorhandenen Horizont entgegen. Note to myself: das blinkende Leuchtband, welches mir ein Kollege für den Trip geschenkt hat, vor Badezimmerbesuch um den Arm binden

Nasser Schnee am Abend ist am frühen Morgen üblicherweise wieder hartgefroren. Frischer Schneefall über Nacht kann nie ausgeschlossen werden. Natürlich können Wetterverschlechterungen auch während der Camp-Nacht ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung hereinbrechen. Im Falle einer drastischen Wetterverschlechterung während der Nacht, kann ein vorzeitiger Abbruch erfolgen sofern ein Rücktransfer zum Schiff noch sicher möglich ist. Es ist ebenfalls möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass Ihre Gruppe auf dem Campingplatz länger als geplant ausharren muss, bis das Wetter eine sichere Rückkehr zum Schiff zulässt.

Süß finde ich die Bezeichnung „Campingplatz“. Eigentlich liegt man irgendwo in einem gegrabenen Loch im Schnee.

Nicht erlaubt: Mitnahme von Camping-Kocher, Brennstoffe oder Lebensmittel. Ich gehe nicht nur nachts ins Bad, ich esse nachts auch gerne Nüsse und Rosinen. Note to myself: Prioritäten setzen; der Fokus liegt darauf, sich nicht zu verlaufen. Verhungern dauert länger.

Stelle mir vor, wie ich morgens aufwache, ich alleine im Schnee liege und das Schiff nicht mehr da liegt wo es liegen sollte. Und ich nicht mal Nüsse oder Rosinen dabei habe.

Greife nochmal in die Wäsche, die neben mir vor sich hintrocknet. Sie ist noch feucht.

12.11.2017

Unterwegs.

Alternatives Sportprogramm am Wochenende: 80 Minuten auf- und abhüpfen inclusive Arme in die Luft recken am Freitag im La Belle Angele bei Too Many Zooz, am Samstag wandern von Pub zu Café zu Restaurant…

Edinburgh 2017. Life is now.

08.11.2017

Unterwegs.
Beim Herzsport berühre ich H. sachte am Arm und stelle ihr die Frage, die mich seit zwei Wochen beschäftigt: Sag mal, warst Du auch am Mount Everest? 

H., die wieder ihr blaues T-Shirt mit der Gebirgssilhuette und dem 50+ Aufdruck trägt und  um die 80 Jahre alt sein muss, strahlt mich an. 1972, 1973 und 1983, antwortet sie. Trekking, mit Zelt. Southface, Nepal. Sie war im Alpenverein. Und am Annapurna, fügt sie hinzu.

Vor meinem inneren Auge startet ein schwarz-weiss-Film, ich sehe die kleine Dame, leicht vorne übergebeugt und mit Rucksack durch unwegsames Gebiet wandern. Ich bin schwer beeindruckt, H. freut sich über mein Interesse und erzählt von ihren Abenteuern.

Ob sie uns auf einen Kaffee einladen soll, tönt es von der Seite, die Trainerin hat uns auf dem Kieker. Entschuldigung, sage ich. Wir sprechen über den Mount Everest, sagt H. Die Trainerin winkt ab. 

Und H. und ich sind kurzzeitig der muffigen Turnhalle und dem Behindertensport entflohen und geniessen den Ausflug zum Himalaya. 

Mein Ziel für 2018.

28.10.2017

Unterwegs.

Ich kenne die Stimme, die hinter der geschlossenen Tür zu hören ist, als ich im Mammazentrum im Krankenhaus mein Rezept für eine weitere Packung Tamoxifen ausstellen lasse. Kurz darauf öffnet sich die Tür, hinter der ich viele Male bei Prof. Dr. M. gesessen und meine Therapien besprochen habe. Ich lächele und grüsse Prof. Dr. M., der mit Telefon am Ohr den Flur durchquert, er grüsst fröhlich zurück, während er telefonierend eine Runde dreht und wieder in seinem Zimmer verschwindet. Gern hätte ich mich etwas mit ihm unterhalten, aber er hat sicher Wichtigeres zu tun. Leben retten. So wie meines.

Vom Krankenhaus sind es nur wenige Minuten zum öffentlichen Bad, das ich bei herrlichem Sonnenschein betrete. Ich lege die Dauerkarte auf den Sensor, wie mir das der Kassierer letzte Woche gezeigt hat. Nichts passiert. Ich bewege die Karte etwas hin und her, es passiert immer noch nichts. Der Kassierer – heute ein anderer – schaut mich erwartungsvoll an. Funktioniert nicht, sage ich. Was ich denn möchte, fragt er mich. Schwimmen, antworte ich. Was soll ich denn sonst wollen, denke ich, aber spreche es nicht aus. Ach so, ich hätte ja auch in die Sauna oder die Sole wollen können, das seien ja andere Preise. Ich bleibe beim Schwimmen, sage ich, er bucht den rabattierten Betrag von meiner Karte ab.

Nach ein paar Bahnen im Innenbereich wechsele ich ins Aussenbecken. Die Bäume sind kahler geworden, eine Windböe weht goldene Blätter in den Pool, die ich beim Schwimmen zur Seite schiebe. Wolken hängen am Himmel, die Banner am Zaun sind ausgeblichen, aber der Pool liegt in der Sonne.  Hamburg, 10 Grad. Es wird Herbst.

Zuhause checke ich die Wetterapp, in der Antarktis sind es mittlerweile Minus 45 Grad, Windchill Minus 62 Grad. Ich ordere eine Nasen/Gesichtsmaske, wie sie auch die Skifahrer nutzen und danke Luisa für Ihren Tipp mit dem Nasenwärmer. Meine bestellten Fäustlinge sind irgendwo zwischen den Niederlanden und Deutschland unterwegs, der DHL-Status vermeldet ein „refused and return to sorting center“. Ich bleibe gelassen.

Am Samstag morgen ist es stürmisch, ich ziehe meine neue Outdoorhose an und besorge in einem Fotoladen an den Colonnaden einen Polarfilter für meine Kamera. Der Inhaber des kleinen Ladens ist freundlich, erklärt mir die Funktion des Filters und stellt mir schon mal meine Kamera richtig ein. Dann putzt er den alten Filter, der auf meiner Kamera sitzt. Ich freue mich über den Service, und noch mehr freue ich mich darüber, dass es draussen mittlerweile nicht nur stürmt sondern auch noch regnet. Da kann die Outdoorhose gleich mal zeigen, ob sie wirklich Wind und Wasser abhält. Ich beschliesse, zu Fuß nach Hause zu marschieren. Die Hose hält, die Turnschuhe nicht, aber von denen habe ich das auch nicht anders erwartet.

Auf dem Weg noch eine kleine Duschlotion, eine Milch und einen Kontoauszug geholt und begeistert festgestellt, dass ich das Ganze ohne Merkzettel bewältige. Kein Vergleich zu der Zeit der Strahlentherapie, in der meine Wohnung mit Post-Its dekoriert war  und ich es trotzdem nicht geschafft habe, vom Einkaufen mit den Teilen zurückzukommen, die auf dem Einkaufszettel standen. Die Konzentration ist zurück.

Am Montag werde ich die letzten Vorbereitungen treffen und britische Pfund (für Edinburgh), US Dollar (für Ausgaben auf dem Schiff) und argentinische Peso (für Ushuaia und Buenos Aires) besorgen. Damit liege ich sehr gut im Timing meiner Reiseplanungen, die neben der Arbeit, dem täglichen Sport, der mittäglichen Krankengymnastik und den Vergnügungen geschehen.

Das Jahr geht in den Endspurt. Und ich mit ihm.

26.10.2017

Zuhause.

Es sei dort Sommer, dort auf der anderen Seite der Welt, die ich in nicht mal mehr einem Monat besuchen werde.

Vorsichtshalber habe ich vorhin doch noch Fäustlinge und drei weitere Paar warme Socken besorgt, ich werde ja campen. Ohne Zelt. In der Antarktis. Das habe ich meiner Ärztin allerdings verschwiegen, als ich gefragt habe, ob ich Langstrecke und Kälte machen darf. Wobei Kälte gerade eine ungeahnte Dimension entwickelt.

Ich bin gespannt. Es wird ja Sommer, dort auf der anderen Seite der Welt.

22.10.2017

Unterwegs.

Letzten Freitag habe ich mir im öffentlichen Schwimmbad eine Dauerkarte geholt. Nachdem ich jetzt einige Wochen regelmässig dort war, besteht keine akute Gefahr mehr, dass ich das Unterfangen Schwimmen-am-Freitag abbreche und die Karte verfallen könnte.
Sonntags, also heute, gehe ich allerdings lieber im schicken Spa schwimmen. Weil es Sonntag ist und man sich zur Feier des Tages was gönnen kann und weil im öffentlichen Bad erfahrungsgemäss die arschbombenden Familienväter mit Anhang rumtoben.

Was ich gern mag
* Meinen Doutzen Kroes I – Bikini (auch wenn ich ihn schon zweimal an der Dekofront nähen musste)
* Plaudern im Bad (mit dem Kassierer) und im Spa (mit der Bardame, die mir zum Kaffee immer zwei Kekse gibt und mir dabei zuzwinkert)
* Alte-Damen-Kopf-über-dem-Wasser-Brustschwimmer, die einfach geradeaus ihre Bahnen schwimmen
* Lustigen Konversationen im Bad lauschen (Heinz, nun mecker‘ mal nicht dauernd rum, schau lieber, wie schön die Bäume gefärbt sind!)
* Den Duft im Spa, der aus dem Saunabereich kommt
* Den Blick im Spa zum Hamburger Michel, während ich schwimme
* Draussen schwimmen im öffentlichen Bad, den Laubbäumen entgegen
* Draussen schwimmen im öffentlichen Bad, dem roten Backsteinhaus und der Sonne entgegen
* Glitzerndes Wasser
* Plaudern über das schöne Wetter mit anderen Outdoor-Schwimmern (Alte-Damen-Kopf-über-dem-Wasser-Brustschwimmer) im öffentlichen Bad
* Auf der Liege im schicken Spa pausieren und die aktuelle Gala lesen

Was ich nicht gern mag
* Meinen Doutzen Kroes II – Bikini (das Unterteil leiert aus. Auch wenn ich im schicken Spa kein Aufsehen ohne Unterteil erregen würde, da fast alle splitterfasernackt unterwegs sind, stört mich das)
* Kampfkraulende Männer, die ihre Arme schwer auf die Wasseroberfläche fallen lassen (das spritzt) und keine Rücksicht auf Alte-Damen-Kopf-über-dem-Wasser-Brustschwimmer nehmen
* Eltern, die mit ihren Kindern im öffentlichen Bad nicht längs sondern quer Wasserball spielen
* Den Mann im öffentlichen Bad, der wie ein Walross aussieht und sich entsprechend schwerfällig vorwärtsbewegt (eigentlich treibt er auf der Stelle) und die Bahn verstopft
* Nasse und tiefe Toiletten im öffentlichen Bad
* Schmutzige Böden im öffentlichen Bad
* Schlecht zu identifizierende Knöpfe an Duschen (öffentliches Bad und schickes Spa), die einen immer erst unter kaltem Wasser stehen lassen, bevor man die Temperatur regeln kann
* Nasse Badelatschen und feuchte Handtücher, mit denen man sich noch abtrocknen muss
* Auf der Liege im schicken Spa pausieren und feststellen, dass es keine aktuelle Gala gibt

21.10.2017

Zuhause.

Liebe C.,
das war ein superschönes Abendessen mit Euch.
Ich genieße es, mit Euch zusammen zu sein, Eure Geschichten und insgesamt den Austausch. Wie Du sagtest, die schönste Selbsthilfegruppe, eine bessere könnte es nicht für mich geben. Außerdem seid Ihr ja meine Schwestern im Herzen.
Danke. S.

Monatliches Treffen mit meinen beiden Brustkrebs-Mitstreiterinnen S. und U., die ich im Sanatorium kennen gelernt habe. Eine ganz besondere Freundschaft, die mich so sehr freut.

18.10.2017

Unterwegs.

Now is now. I‘m focusing on the positive. I learned some important things about life, others, and myself. I feel I now have a clearer perspective on life. I see things today I never saw before.

Jon Krakauer, Into thin air

Und bei C. wird es im Urlaub ganz kalt sein, sagt die Trainerin. Minus 20 Grad, antworte ich. C. fährt in die Antarktis, lässt sie die Sportis wissen. Zum Campen, füge ich hinzu. Ich finde, das klingt spektakulärer als nur Antarktis. Ausserdem stimmt es.

Jetzt kommt Leben in die Herzis, deren Herzen langsamer als meines schlagen, was ich heute beim Pulsen feststellen musste. Das sei wegen der Betablocker, erklärt mir die Ärztin. Mein Puls sei im normalen Bereich.

Ob es eine Liste gebe, was ich einpacken müsste (ja), wo die Reise losginge (Ushuaia/Argentinien), was es für Tiere dort gebe (Pinguine, Robben, Seelöwen), wollen die Herzis wissen. Es ist das erste Mal, dass wir uns während des Aufwärmens angeregt unterhalten.

H., eine kleine grauhaarige Dame mit freundlichen Augen, fängt an zu erzählen: 1969 sei sie auf dem Kilimanscharo gewesen und überhaupt auf vielen Bergen, 5000er und 6000er. H. trägt ein T-Shirt mit Gebirgssilhuette und dem Slogan „50+“. Das finde ich lustig, denn sie ist bestimmt um die 80 Jahre alt.

Argentinien kenne sie, auch Chile, sie hätte früher viele Länder bereist. Backpacking. Kenne ich auch, habe ich auch gemacht, rufe ich und bin begeistert. Wir waren beide auf 4600 Metern in der Atacama-Wüste und haben die Geysire sprudeln sehen.
Heute könne sie nicht mehr reisen, sagt H.
Aber die Erinnerungen, die bleiben, sage ich.
Sie werde vergesslich, entgegnet H.
Darauf fällt mir nichts ein, und H. fragt, ob ich schon mal Pinguine gesehen hätte.
Habe ich, in Argentinien, als wir mit dem Boot durch den Beaglekanal gefahren sind.

Nächste Woche werde ich sie fragen, ob sie auch schon mal am Mount Everest gewesen ist. Der steht auf meiner Bucket-List. Und ich stehe hoffentlich nächstes Jahr im Basecamp, Northface.

16.10.2017

Unterwegs.

Genau die Stelle tut weh, rufe ich dem Krankengymnast zu, der, während ich mich bäuchlings auf der Liege befinde, im Bereich der linken Kniekehle herumdrückt.

Der innere Beugemuskel des Knies braucht Massagen und Wärme, lautet das Fazit. Gut, endlich zu wissen, was mir bei einigen Bewegungen Schmerzen bereitet. Und gut, dass man was dagegen tun kann. Ich bekomme eine Übung für zuhause mit auf den Weg und werde das Montags-Taiji,  das wir mit der Stehenden Säule beginnen, ausfallen lassen. Die Übung ist sicher nicht optimal für meinen angeschlagenen Beugemuskel.

Alternativ geht es zum Walken, danach dann Übungen mit der Pilates-Rolle.

15.10.2017

Zuhause.

Meine Freundin M. bittet mich, „das Taschentuch aufheben“ zu demonstrieren. So heisst die Form natürlich nicht, es gibt keine konkrete Bezeichnung für den Taiji-Teil, der an „die schräge Stellung einnehmen“ anknüpft. Aber es sieht aus, als wolle man mit der linken Hand ein imaginäres Taschentuch vom Boden aufheben.

Demonstration zwischen Kaffeetassen und Doppel-Dinkelkeksen, M. scheint zufrieden.

15.10.2017

Unterwegs.

Keine spektakulären Vorkommnisse am Donnerstag im Fitnessraum zu verzeichnen (lässt man den schwer stöhnenden Sporti ausser acht, der – spätestens, als er nen Kopfstand macht – alle Blicke auf sich gezogen hat).  Das Schwimmen am Freitag im Glitzerwasser des Outdoorbeckens kristallisiert sich zum Höhepunkt der sportlichen Wochen heraus.

Am Samstag nehme ich mir bewusst nichts weiter vor, gehe gemächlich Einkaufen und putze rudimentär die Wohnung. Die restliche Zeit liege ich auf dem Sofa, lese einen Comic, schaue fern, trinke einen Kaffee und relaxe. Um 18.00 Uhr werde ich nervös und stelle fest, dass mir die tägliche Bewegung fehlt. Laufe eine 19er Form im Wohnzimmer.

Am Sonntag springe ich früh aus dem Bett, frühstücke, gehe hinaus in den Nebel und schaue der Sonne zu, wie sie sich langsam durch das Grau über der Elbe kämpft. Sie gewinnt.

Wandere zurück nach Hause, gehe in den Garten und laufe im Sonnenschein drei weitere 19er Formen.

11.10.2017

Unterwegs.

Wir könnten ja schon mal pulsen, schlägt einer der Herzis vor. Und wir machen einfach ganz langsam, füge ich hinzu.

Sechs Herzis, eine Trainerin und ich – Frau Dr. A. ist nicht in Sicht. Und ohne ärztliche Aufsicht dürfen wir nicht mit dem Sport anfangen. Da sei schon so einiges passiert, erklärt die Trainerin und schaut mich an. Die Worte hängen in der Luft, was genau schon so passiert ist, will ich lieber gar nicht wissen. Da sie mir letzte Woche von ihren Sportstunden mit den Kindern vorgeschwärmt hat, die ein „lebendiges“ Kontrastprogramm zum Sport mit den Herzis sind, ahne ich düsteres. Und umsonst steht die Erste-Hilfe-Box samt Defibrillator auch nicht in der Halle.

Zum Glück weht Dr. A. im pinken Trenchcoat um die Ecke, die langen Haare wie immer offen und zerzaust. Wir können starten.

Nach Pulsen – das ich noch immer nicht durchschaut habe – und Aufwärmen zu Walzerklängen stehen wir uns paarweise zum Ringwerfen gegenüber. Mein Partner ist M., bei dem ich jede Woche Angst habe, dass er umkippt. Falsch liege ich damit nicht, er sitzt meistens schnaufend auf der Bank. Auch jetzt schnauft er wieder, während wir uns mehr schlecht als recht die Ringe zuwerfen. Ein Ring trifft mich unglücklich am Mittelfinger, irgendeine Ader platzt, die Fingerspitze wird dick, blau und heiss. Kampfverletzung, rufe ich M. zu und halte den Finger in die Luft. Ob ich mich setzen möchte, schnauft M. und schaut hoffnungsvoll. Ich zerstöre seine Hoffnung sofort. Wir machen weiter, ist nur ein Finger, nicht so schlimm, rufe ich wieder. Ich halte den Finger auch nicht Frau Dr. A. unter die Nase, mich ärgert ja schon, dass ich bei Streckübungen immer unter Sonderbewachung stehe. Und schon ertönt ein „Aber C. muss aufpassen“ zu mir herüber.

Morgen ist wieder Gerätetrainung im Reha-Zentrum. Ohne Pulsen, ohne strenge Überwachung und ohne Walzerklänge. Und ohne blauen Finger.

10.10.2017

Unterwegs.

Die Yoga-Leute, die nach uns den Raum haben, hätten den Vorschlag gemacht, ein Mal leise an die Tür zu klopfen, damit wir wüssten, dass sie da seien, erklärt unser Meditationslehrer, der übrigens auch unser Taijilehrer ist.
G. und ich müssen lachen. Die Yogatruppe besteht aus circa 15 Leuten, die laut trampelnd die Treppe des Altbaus hochpoltert, um sich dann vor unserer Tür zu unterhalten. Die Befürchtung, sie nicht wahrzunehmen, teilen wir nicht.
Heute ist Sitzmeditation im Yogaraum des Psychologen-Hauses in der Schanze. Vom Raum, der im zweiten Stock liegt, guckt man in den verwunschenen Garten, in dem wir in der Sommersaison Taiji praktizieren.
Der Yogaraum strahlt Ruhe und Wärme aus; die Wände sind hellgelb gestrichen, der Teppich orangefarben, die hohen Decken sind mit Stuck verziert, das Licht ist gedimmt. Wir sitzen auf Schafsfellen und Meditationskissen und haben uns in rote Wolldecken eingehüllt. Nach den Dehnübungen schweigen wir, nur unterbrochen von den Worten unseres Lehrers, der uns in die Stille der Meditation führt.
Heute sind wir nur zu zweit, die russische Künstlerin G., die ich ob ihres Akzentes als Belgierin ausgemacht hatte und ich. G. ist sehr sympathisch; quirlig, lustig, aufgeschlossen. Schon gestern beim Taiji haben wir uns über Klamotten ausgetauscht, während die Schwerter unserer Mitschüler herumgereicht wurden.
Wir könnten doch mal zusammen shoppen gehen, schlägt G. mir heute vor. Ich willige fröhlich ein. Und beende den heutigen Tag mit 6.500 Schritten.

09.10.2017

Unterwegs.

Die Gruppe hat einen kleinen Kreis gebildet und schaut auf den Boden. In den Händen halten sie Schwerter. In der Mitte des Kreises liegt eine tote Mücke. Nicht erstochen, sondern mit einem Schwert zerquetscht.

Das erste Opfer des Zusatzprogramms, das sich unser Taiji-Lehrer für seine Schüler überlegt hat. Schwertkampf. Nach dem regulären Unterricht wird eine halbe Stunde drangehängt. Ich mache nicht mit, mir ist das zu lang, ausserdem bin ich immer noch mit der 19er Form beschäftigt.  Ich befürchte, dass mich weitere Lerneinheiten intellektuell überfordern könnten. Neben mir sind noch ein paar andere, die sich gegen den Schwertkampf entschieden haben. Trotzdem halten wir alle die Schwerter in der Hand, die unsere Mitschüler stolz und auch etwas aufgeregt herumzeigen. Wir freuen uns mit ihnen und scherzen herum.

Damit die Wartezeit zum Extra-Programm nicht zu lange wird, dürfen die Schwertkämpfer die Reeling Silk-Übungen mit Waffe üben, während wir Unbewaffneten die gängige Abwehrhaltung einnehmen.

Bevor es aber richtig losgeht, laufen wir unsere 19er Form – in Zeitlupe, während unser Lehrer durch die Reihen geht und korrigiert. Wer sich mit Taiji auskennt, weiß, dass es extrem anstrengend ist, die eh schon langsamen Bewegungen fast im Stand zu machen.

Um 20:00 Uhr ist für uns Unbewaffnete der Unterricht vorbei. Ich marschiere zur Bushaltestelle, es ist dunkel, es regnet, nachher wird mein Schrittzähler 9.000 Schritte anzeigen – das ist eine gute Leistung neben den 90 Minuten Taiji und dem Arbeitstag, der hinter mir liegt.

Ich gehe über die Brücke, die über die grau-braune Elbe führt und biege in meine Straße ein. Polizeiwagen stehen vor dem Wohnkomplex, der neben meinem Haus liegt. Eine Anwohnerin erklärt den Polizisten, dass die Gebäude eine Tiefgarage haben, die die Häuser verbindet. Da könnten sie entkommen sein. Ich gehe weiter. Und überlege, ob ich mich nicht doch noch für den Schwertkampf entscheiden sollte.

06.10.2017

Unterwegs.

Nach dem Orkan ist vor dem Schwimmen. Wenn mir vor ein paar Monaten jemand gesagt hätte, dass ich Anfang Oktober unter freiem Himmel meine Bahnen ziehe, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

Du BIST verrückt, sagt meine Freundin M.

Aber nein, antworte ich. Ich bin glücklich, wenn ich, die Sonne im Gesicht, auf die buntgelaubten Bäume zuschwimme. Um mich herum glitzert das Wasser.

29.09.2017

Unterwegs.


Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.
Rainer Maria Rilke, „Herbsttag“

Es wird Herbst. Trotzdem packe ich meine Schwimmsachen zusammen, da ich dem Bad in Eimsbüttel, das über geöffnete Aussenbahnen verfügt, eine letzte Chance geben möchte. Zweimal war ich bereits dort, beide Male hat es mir nicht gefallen. Doch heute ist Freitag, es ist Mittagszeit, ich habe Feierabend und wähne die arschbombenden Familienväter bei der Arbeit und die krakeelenden Kinder zuhause am Mittagstisch. Ich habe Recht. Nur ein paar Kampfschwimmer sind auf der Schnellbahn unterwegs und einige Damen und Herren, die gemächlich ihre Bahnen ziehen.

Die Sonne scheint und lässt das Wasser glitzern, die Blätter der Bäume neben dem alten Backsteingebäude, das den Innenpool beherbergt, leuchten rot, braun, gelb und grün. Ich beglückwünsche mich zu der Entscheidung, dem öffentlichen Bad noch eine letzte Chance gegeben zu haben und blinzele in die Sonne.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof komme ich an „meinem“ kleinen Krankenhaus vorbei, das neben einer alten Kirche liegt. Es macht einen friedlichen Eindruck, hier in der Nebenstraße mit den vielen Bäumen. Nichts lässt erahnen, dass dieser Ort eines der größten Brustkrebszentren Deutschlands ist.

Da das Schwimmbad heute gut abgeschnitten hat, wird der Herbst- und Winterplan für meine sportlichen Aktivitäten angeglichen:
Montag: 90 Minuten Taiji
Dienstag: 120 Minuten Dehnübungen und Sitzmeditation
Mittwoch: 60 Minuten Herzsport
Donnerstag: 60 Minuten Fitnessraum im Reha-Zentrum
Freitag: 60 Minuten Schwimmen
Am Wochenende gibt es ein flexibles Programm, das sich aus WS-Gymnastik, Spazierengehen/Joggen und Schwimmen zusammensetzt.

Ich habe mir angewöhnt, mich öfters neben mich zu stellen und zu beobachten: wie fühle ich mich bei der Arbeit (da gehe ich ja auch noch täglich hin), bei den vielen sportlichen Aktivitäten und Freizeitvergnügungen wie Theater-, Lesungs- oder Restaurantbesuchen mit Freunden, den spontanen Wochenendausflügen nach Sylt oder Wien, unterbrochen durch Stunden, die ich mit einem Buch auf dem Balkon verbringe?

Die Antwort ist: sehr gut.
Ich fühle mich fit, ausgeglichen und zufrieden. Ich fühle Dankbarkeit dafür, dass ich am Leben bin und es genießen kann.

#Krebs

20.09.2017

Im radiologischen Zentrum.

Dann müssen Sie aber zwei bis drei Stunden warten, sagt die Rezeptionistin. Ich mag es nicht, einfach MRT-Bilder in die Hand gedrückt zu bekommen, um sie dann eine Woche später mit meinem Orthopäden zu besprechen. Ich bestehe darauf, im Anschluss an das MRT mit einem Radiologen Rücksprache zu halten. Auch wenn ich warten muss.

Das Prozedere zum MRT ist unspektakulär, wenn man bereits fünf Wochen tägliche Strahlentherapie mit Luftanhalten hinter sich hat. Ich werde gebeten, im Flur Platz zu nehmen, eine Ärztin kommt auf mich zu und fragt nach meinem Namen. Sie lächelt und verspricht, sich die Bilder sofort anzuschauen. Beim Warten höre ich das Klicken auf dem PC, während sie sich durch die Aufnahmen arbeitet.

Sie kommt zurück, lächelt immer noch und gibt Entwarnung. Keine Metastasen. Und auch sonst nichts Schlimmes am Knie auszumachen. Sie ermuntert mich, weiterhin unverzüglich den Arzt aufzusuchen und nicht abzuwarten, wenn etwas anders scheint als sonst. Nächste Woche werde ich dann zum Orthopäden gehen, um zu klären, was man jetzt gegen die (leichten) Schmerzen machen kann.

Ich frühstücke beim Bäcker, dann fahre ich nach Hause und buche mir ein Ticket für meine US-Lieblingsband Too Many Zooz, die gestern Abend verkündet hat, im November spontan für einige Auftritte nach UK zu kommen.  Und ich komme nach Edinburgh!

Grundsätzlicher Beschluss für 2017:
Um das Jahr „break even“ beziehungsweise in Balance abzuschliessen, werde ich jedem Moment der Angst und des Schmerzes schöne Momente entgegensetzen.

#Krebs

19.09.2017

Im Krankenhaus.

Es ist kurz nach 8 Uhr. Die Dame am Empfang schaut hoch und fragt, wieso ich eine Überweisung zum Ultraschall hätte. Zur Nachsorge, antworte ich. Von der Gynäkologin aus dem fünften Stock. Welche Seite? Beide. Sie hält Rücksprache mit der Radiologin, ich bekomme das mit, als ich im Wartezimmer Platz genommen habe. Ob ich auch mit einer Mammographie einverstanden sei, fragt sie dann. Denn die sollte ein halbes Jahr nach der Operation gemacht werden. Ich bin einverstanden.

Dann machen wir beides, Mammographie und Ultraschall.
Die Knoten enthielten Flüssigkeit, die können sich noch verändern und auch verschwinden, erklärt die Radiologin. Und bei „meinem“ Krebs wäre es unwahrscheinlich, wenn er jetzt wieder aufgetaucht wäre. Entwarnung.

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so erleichtert war.

Das mitgenommene Taxigeld, eingesteckt für das worst case scenario, investiere ich in einen Blumenstrauß. Den schenke ich mir.

Der Nebel, der noch den Fernsehturm umhüllt, löst sich langsam auf. Die Sonne kommt durch.

#Krebs

18.09.2017

Zwischenspiel. Wieso, weshalb, warum?

Theorie 1. Die Statistik oder der alte Mann
Alter Mann mit weißem Bart sitzt über den Wolken und zählt: 1,2,3,4,5,6,7, Brustkrebs.
Er zeigt auf mich. Hä? Das kann ja wohl nicht sein, interveniere ich: ich bin Nichtraucher, schlank, mache Sport, ernähre mich gesund (denkste!)….
Der alte Mann rollt mit den Augen und seufzt. Widerspruch wird nicht geduldet und bestraft: Brustkrebs, beidseitig!

Theorie 2. Die Selbstverschuldung
Der Stresslevel war hoch, eigentlich überschritten. Mehr als ein Mal kommt mir der Gedanke und Wunsch, dass eine kleine Krankheit eine dringend benötigte Pause mit sich bringen würde. Vielleicht ein „kleines“ Burnout. Oder so. Eigentlich weiß ich, dass meine Psyche stabil ist. Und nicht sehr anfällig für Krankheiten. Der Körper reagiert. Brustkrebs. Aber beidseitig. Damit ich wirklich pausiere.

Theorie 3. Der biologische Ansatz
Irgendwo im Körper teilt sich eine Zelle und mutiert. Das kann vorkommen. Öfters als gedacht. Krebs. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Zellen zeitgleich und unabhängig voneinander in verschiedenen Körperteilen mutieren und sich zu Krebs entwickeln? Ich sollte Lotto spielen.

Fazit:
Es ist reine Energieverschwendung, sich Gedanken darüber zu machen, warum es einen getroffen hat. Fakt ist: es hat einen getroffen.
Corrective and preventive action: Lern‘ draus und optimiere Dein Leben. Um einem „Zweitschlag“ vorzubeugen.

#Krebs

18.09.2017

Unterwegs.

 

‚Bist du auf der anderen Seite des Sees gewesen? Und ist dort auch wieder das Meer?“
Lucien Deprijck, „Die Inseln, auf denen ich strande“

Erster Urlaubstag. Den Vormittag verbringe ich im Pool und schwimme meine Bahnen, 30 Minuten, hin und her. Mir kommt der Gedanke, ob man das überhaupt als Sport bezeichnen kann; ich kraule nicht wie eine Olympionike sondern falle unter die Kategorie alte-Damen-mit-Kopf-über-dem-Wasser-Brustschwimmen. Aber immerhin im stylischen Doutzen Kroes I – Bikini.
Beim Schwimmen schaue ich auf den Hamburger Michel und sehe die Besucher oben auf der Platform stehen, sie sind winzig klein. Das goldene Zifferblatt der Turmuhr leuchtet in der Sonne.

Ich bestelle mir eine Rharbarberschorle (Ausnahme, es ist Urlaub!), lese etwas im mitgebrachten Buch, dann schwimme ich eine weitere halbe Stunde. Auch wenn das nicht gerade unter Leistungssport fällt, bewegen tue ich mich ja, denke ich mir, als ich nach Hause marschiere. Und heute Abend stehen noch 60 Minuten im Fitnessraum an.

Der Sport lenkt mich von den Gedanken an den Termin beim Radiologen im Krankenhaus ab, der morgen früh ist.

Nachtrag:
Vom Stepper schaue ich über die Dächer Hamburgs bis hin zur Spitze der Nicolai-Kirche. Dort bleibt mein Blick hängen, während ich vor mich hin steppe.
Morgen Abend werde ich in die Katharinenkirche gehen, zu einer Lesung mit Hannelore Hoger. Scheint meine Woche der Kirchen zu sein.

16.09.2017

Unterwegs.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt freundschaftliche Regungen in mir verspürt habe, und jetzt hatte ich das Gefühl gleich zweimal in den letzten vierundzwanzig Stunden. Vielleicht ist dieser Tag doch nicht so furchtbar, wie ich dachte.
Forrest Leo, Der Gentleman

Es ist Freitag, ich räume meinen Schreibtisch auf, ziehe meine Jacke an und nehme die Tasche, werfe nochmal einen Blick zurück in mein Büro, in dem noch immer das Welcome Back-Schild auf dem Tisch steht. Unverhofft trifft mich ein wehmütiges Gefühl und die Frage, wann ich wohl wieder zurück komme. In einer Woche, antworte ich mir. Bestimmt.

Nächste Woche habe ich frei genommen, Urlaub habe ich noch genügend. Und zwei Termine, die meine Gedanken einnehmen. Am Dienstag bin ich beim Radiologen im Krankenhaus zum Ultraschall – und ich habe Knoten. Am Mittwoch bin ich beim Radiologen in der Innenstadt zum MRT meines linken Knies – wegen der Schmerzen. Aber eigentlich wegen der Angst. Doch auch dem Orthopäden ist es zu heikel, es mit einem Abtasten des Knies gut sein zu lassen, bei meinen Vorbefunden sei ihm ein MRT sicherer.

Abends fahre ich mit U. zu S.. Ich freue mich sehr, meine beiden Mitstreiterinnen aus dem Sanatorium wiederzusehen, bei unserem monatlichen Treffen zum Austausch und Follow Up. Wie ist es den anderen in der Zwischenzeit ergangen? Halten wir Kurs, setzen wir das, was wir uns nach unseren Dramen vorgenommen haben, um? U. berichtet, dass sie nächste Woche mit Qigong anfängt und gerade eine friedliche Phase bei der Arbeit hat. S. macht jetzt Yoga und Entspannungsübungen und ist auf dem Weg zu sich Selbst. Ausserdem achtet sie sehr auf gesunde Ernährung, was sich im kredenzten Abendbrot widerspiegelt. U. und ich sind begeistert. Ich erzähle den Mädels von den Herzis, meiner reduzierten Arbeitszeit und meinen anstehenden Arztterminen. S. und U. machen mir Mut. Es ist ein wunderschöner Abend, wir lachen, wir reden ohne Unterbrechung, es ist genauso harmonisch wie damals im Sanatorium. Wir freuen uns, dass wir uns kennen gelernt haben.

Später schreibt mir S., dass es ihr gut tue, mit uns zu reden: Irgendwie seid Ihr auch wie Schwestern, die aufpassen, dass alles gut läuft, wohlwollend, aber kritisch, nicht mit Eurer Meinung hinterm Berg haltend.

Für Oktober ist das nächste Treffen mit meinen neuen Schwestern geplant.

#Krebs

12.09.2017

Unterwegs.

Auch das macht mich glücklich: den Dienstag Abend in dem verwunschenen Garten der Psychologen in der Schanze zu verbringen. Mit mir mein Taiji-Lehrer und eine weitere Schülerin. Der Wind rauscht durch die Blätter der Bäume, der Regen hat ausgesetzt, die Füsse suchen einen festen Stand in dem Gras, wir laufen die 19er Form, und auf meinen Wunsch vertiefen wir den Part die Mähne des Pferdes teilen. Bis die Dunkelheit anbricht.

#Krebs

10.09.2017

Unterwegs.

 

„Wenn wir jedem Individuum das richtige Maß an Nahrung und Bewegung zukommen lassen könnten, hätten wir den sichersten Weg zur Gesundheit gefunden.“
Hippokrates, ca. 460-377 v. Chr.

Auf Socken durchquere ich die Turnhalle, der Boden ist aus Holz, an den Decken hängen Ringe, hinten eine Sprossenwand, überall laufen kleine Fechter in ihrer Ausrüstung umher. Ich bin in einem der ältesten Turnvereine Hamburgs gelandet. Der Turnverein residiert in einem großen roten Backsteinhaus und liegt zentraler als die Schulsporthalle von letzter Woche, wo ich meine erste Probestunde beim Herzsport hatte.
Hier gibt es mehrere Turnhallen, überall ist Gewusel, die Umkleiden liegen im Keller, und hinter dem Raum mit den Fechtern liegt ein kleinerer Raum, in dem ich auf die „neuen“ Herzis treffe.

Auch diese Gruppe ist um einiges älter als ich es bin, ob sie fitter sind, wird sich gleich zeigen. Zuerst wird wieder der Puls gemessen, die nette Ärztin, die mich letzte Woche in den Outskirts auf diese Gruppe in Hamburgs Zentrum aufmerksam gemacht hat, hilft mir. Mein Puls ist normal, aber das war klar, ich bin ja auch kein Herzi. Und noch haben wir uns nicht angestrengt. Daumen nach oben, wenn es Euch heute gut geht, ruft die Trainerin. Mein Daumen zeigt sofort nach oben, die Herzis sind zögerlicher, einige Daumen sind auf Halbmast, einige gehen hoch, zum Glück keiner nach unten.

Wir wärmen uns auf, alte Schlager aus der Stereoanlage erfüllen den etwas muffigen Raum.
Nach dem Aufwärmen müssen sich drei Herzis erstmal auf die Bank setzen. Und jetzt weiß ich auch, warum die Ärztin beim Herzsport anwesend ist, und mit ihr eine große Box mit Defibrillator und anderen Erste Hilfe-Utensilien. Herzis können umkippen, raunt mir die Trainerin zu, ich gucke geschockt und frage, ob das hier häufiger passiert. Das komme schon mal vor, antwortet sie, aber sie seien ja gut ausgerüstet. Ich bin verunsichert.

Ich entscheide, das für mich Beste aus der Situation zu machen: ich strenge mich an, sprinte mit Tennisschläger und Bällen durch die Halle, die Trainerin feuert mich an, ich fange an zu schwitzen. Und stelle fest: es bringt mir Spaß, auch wenn das Umfeld  etwas skurril anmutet. Es ist eine andere Welt als die, in der ich mich sonst bewege. Aber es erdet mich.

Nach dem Training schaut mich die Ärztin erwartungsvoll an und bietet mir als Alternative noch eine orthopädische Gruppe an. Ich bleibe bei den Herzis, sage ich. Und mache mich auf den Heimweg, zurück in meine Welt.

05.09.2017

Unterwegs.

Benommen sinke ich auf die Knie, lege die Hände in den Schnee, der weder weich ist noch sanft. In meinen Bronchien rasselt der Atem, es klopft und wummert im ganzen Leib. Ich kann nicht anders, als zu hören, wie das Blut durch meine Adern pumpt. Höre mein Leben. Und dahinter, davor, darüber eine mächtige gewaltige Stille.
Anne von Canal, „White Out“

What: Camping
When: Nov/Dec 2017
Where: Antarctica
Status: booked

Life is now.
And I 🖤 my bucket-list.

04.09.2017

Zuhause.

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Um mich herum ist es schneeweiß; ich sehe nicht wohin ich gehe, wo der Raum endet, es gibt keinen Horizont, keinen Boden, keinen Himmel. Alles liegt im dichten Nebel. Irgendwann erreiche ich eine Anhöhe, die fließend in eine Wand übergeht.

Langsam drehe ich mich um, um den Rückweg anzutreten. Die Sicht ist klar; das Ende des Saales, die imposanten Marmorsäulen und die Museumswärterin sind deutlich zu erkennen. Ich gehe weiter, bleibe stehen, schaue zurück in eine weiße unendliche Wüste. Die Ausstellung „The Illusion of Light“ und  die Nebelinstallation von Doug Wheeler haben mich Ende 2014 im Palazzo Grassi sehr beeindruckt. 

Gestern Nacht wache ich auf und bin nicht allein. Die Angst hat sich zu mir gesellt, sie hat sich um mich gelegt wie ein dichter, schwerer Nebel, aus dem ich nicht herausfinde. Unwillkürlich denke ich an die Nebelinstallation, die Unsicherheit, die Angst zu fallen.

Ich versuche, die Lage sachlich zu bewerten.

Da ist der Schmerz im linken Knie, das sich der Hausarzt angeschaut und festgestellt hat, dass es sich um keine Thrombose handelt und ich mit einer Knochenmetastase – und das ist meine Befürchtung – nicht mehr laufen könne.

Und dann sind da die Knoten im Narbenbereich auf der linken Seite, die bereits von drei Ärztinnen abgetastet wurden. Das könne nichts sein. Schliesslich habe ich eine OP und eine Strahlentherapie hinter mir. Und das Medikament nehme ich auch regelmässig ein, genauso wie ich täglich Sport mache und mich gesund ernähre.

Und trotzdem habe ich Angst, in der Nacht dringen die rationalen Argumente nicht zu mir durch. Ich versuche, ruhig zu bleiben und auf den Morgen zu warten. Wenn die Sonne kommt, wird sich der Nebel auflösen. Wenn der Tag kommt, kann ich aktiv werden.

Später hole ich einen Termin beim Orthopäden, der glücklicherweise schon diesen Donnerstag Zeit für mich hat. Meinen Sonografie-Termin im radiologischen Zentrum kann ich auf Mitte September vorziehen. Und abends im Fitnessraum lege ich einige extra-Minuten auf dem Stepper ein.

02.09.2017

Unterwegs.

Wir stehen im Kreis und fassen uns an den Händen, dann wippen wir von den Fußspitzen auf die Fersen. Meine Mitstreiter sind älter als ich. Viel älter. Und weniger fit.

Am Telefon sagt die Kursleiterin, dass sie mich lieber in eine Herzsportgruppe nehmen würde, die Herzis seien fitter und jünger als die Teilnehmer der Krebsgruppe, für die ich ein Rezept über 50 Stunden Rehasport bekommen habe. Nun stehe ich in der Turnhalle zwischen den Herzis und frage mich, wie dann wohl erst die Teilnehmer der Krebssportgruppe sind. Die machen Übungen im Sitzen, bekomme ich als Antwort. Die Trainerin hält nicht viel von reinen Krebsgruppen, zu unterschiedlich seien die Anforderungen und die Stimmung eher bedrückend. Die Herzis sind fröhlich, die stecken die Krebskranken mit ihrer guten Laune an, deshalb nehme sie die fitteren in die Herzgruppe auf.

Herzlich sind sie wirklich, sie fragen mich nach meinem Namen, nach meinem Befund und integrieren mich sofort. Wir walken durch die Turnhalle und werfen uns kleine Sandsäckchen zu. Später spiele ich mit M., die Krebs hat, Federball, und das bringt wirklich Spaß. Gleichmäßig fliegt der Ball durch die Luft, ploppt auf die Schläger, fliegt zurück, hin und her als ob wir schon ewig zusammen spielten.

M. bedauert, dass es wohl bei meiner Probestunde bleiben wird, immer, wenn sie jemand nett finde, würde er wieder gehen.
Die Fahrt von zuhause bis zur Turnhalle hat mit Bus und Bahn 75 Minuten gedauert, es ging quer durch Hamburg, und das ist mir zu aufwendig für 60 Minuten Sport, der mich auch nicht richtig gefordert hat.

Die anwesende Ärztin hat eine andere Herzgruppe für mich, näher am Zentrum, da solle ich nächste Woche mal mitmachen, sie kläre das für mich ab. Ich freue mich ob der Fürsorge, ich habe sämtliche Behindertensportgruppen kontaktiert, die Krebsnachsorgesport abrechnen können: über zwei Jahre ist die Wassergymnastik in Sankt Pauli ausgebucht, ein Verein fordert, dass ich erst zahlendes Mitglied werde (was ich nicht will), viele Kurse laufen tagsüber (ich arbeite volltags) oder sind in Hamburgs Randbereichen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zu erreichen sind.

Aus einem der Randbereiche rase ich jetzt zum Bus zurück, der abfahrbereit an der Haltestelle steht, zwei meiner Mitstreiter feuern mich an, laufen auf der anderen Straßenseite nebenher und machen den Busfahrer auf mich aufmerksam. Lieb sind sie, die Herzis. Und wenn ich doch mein Rezept, vielleicht auch nur teilweise, in dieser Gruppe einlösen möchte, bin ich herzlich willkommen, sagt die Trainerin. Und umarmt mich.

26.08.2017

Unterwegs.

Die blonde Frau am Nebentisch grüsst zu mir ‚rüber und lacht. Ich grüsse zurück und bin irritiert, genauso wie es offensichtlich auch ihre männliche Begleitung ist. Ich kenne die Frau nicht.
Und zumindest der Mann scheint mich auch nicht zu kennen.
Wir waren doch vorhin zusammen im Flieger, raunt sie ihm zu.

Es ist kurz vor 10 Uhr, die Sonne scheint, ich schaue von der Rooftopbar des Steffls über die Dächer von Wien. Ich trinke ein Glas Sekt, dazu einen Milchkaffee, und es gibt frisch gebackenes Vollkornbrot mit Quark, Hummus und Gemüsesticks. Ein Kompromiss zwischen gesund und gönn-dir-was.

Im Stephansdom zünde ich zwei Kerzen an, eine für meinen Wiener Mitkämpfer A., der gerade in Kroatien weilt und eine für mich. Ich wünsche uns Gesundheit und ein langes Leben. Eine Weile beobachte ich die Kerzen, ich möchte nicht, dass sie erlöschen, das wäre ein schlechtes Omen. Die Kerzen brennen selbstsicher vor sich hin, ich bin beruhigt und gehe hinunter zur Donau.

Es wird ein heisser
Tag werden, der Weg am Fluss neben der Bahntrasse stinkt. Statt einer Donaufahrt besuche ich das Museum der Illusionen. Verlassen tu ich es später in schwindeligem Zustand; an einigen Objekten hängen Warnungen, dass man diese nur im gesunden Zustand testen solle und nicht, wenn man z.B. gerade operiert wurde. Ich teste natürlich alles, auch wenn ich aus einem Raum an der Wand entlangtastend herausstolpere.

Endlich schaffe ich es, auch mal die Nationalbibliothek zu besichtigen, der Prunksaal ist atemberaubend schön, bis unter die Decken lagern wertvolle alte Schriften.

Danach ein frischgepresster Smoothie mit Ingwer, an der Hofreitschule vorbei und weiter ins Untere Belvedere, noch mehr Prunkräume, noch mehr Gemälde und draussen noch mehr Hitze. Auf dem Weg durch den Park ins Obere Belvedere macht mein Hamburger Nieselwetter-Kreislauf schlapp, mittlerweile sind hier 34 Grad, ich setze mich auf eine Bank und ruhe mich aus, bevor ich ins Hotel aufbreche.

Erst bei Anbruch der Dunkelheit wage ich mich wieder vor die Tür, mit 28 Grad kann ich besser umgehen. Ich fahre mit der Strassenbahn und lasse mich treiben, der Weg ist das Ziel. Am Burgtheater beschliesse ich auszusteigen, am Rathaus läuft ein Filmfestival, ich schlendere durch die Stände und hole mir Süsskartoffelpommes mit Wasabi-Mayo. Zu spät fällt mir auf, dass die nicht unter gesunde Ernährung fallen, genauso wenig wie der Sekt und der Apfelstrudel vom Nachmittag. Dafür hast du dir heute schon viermal die Zähne geputzt, sage ich zu mir selbst. Das hat zwar so gar nichts damit zu tun, was ich heute gegessen habe, aber ich kann es ja mal erwähnen. Es ist Urlaub, sage ich mir und gebe Ruhe.

24.08.2017

Zuhause.
Ja, ich möchte immerhin
wenn ich tot bin,
so eine Laterne sein,
die nachts ganz allein, 
wenn alles schläft auf der Welt,
sich mit dem Mond unterhält –
natürlich per Du.
Wolfgang Borchert „Laternentraum“

J. hat mir die Fotos geschickt, die wir für ihr Projekt „das Foto für Deine zukünftige Beerdigung“ gemacht haben. Sie ist etwas traurig, die Fotos sind alle leicht überbelichtet und verschwommen. Ich gehe die ungefähr 50 Fotos durch und finde sie sehr gelungen.
Gerade das Überbelichtete und Verschwommene erweckt den Eindruck, dass ich mich auf einer Reise befinde, zwischen dem Hier und Jetzt und dem Jenseits. Ausserdem haben sie etwas Festliches, Nachdenkliches, aber auch Fröhliches. Ich bin begeistert, J. hat die Stimmung während des Shootings perfekt eingefangen. Das Shooting fand während der Strahlentherapie statt, zwischen Schmerz und Müdigkeit.

21.08.2017

Unterwegs.
Ich werde nicht schreien, ich werde nicht stöhnen, aber ich will der Situation ins Gesicht sehen. Ich will nicht von ihr überfallen werden, ohne daß ich sie hätte erkennen können.

Jean-Paul Sartre, „Geschlossene Gesellschaft“

Ich bin schlecht gelaunt. Das passiert nicht häufig, und ich beobachte es mit besonderem Interesse. Was genau hat die schlechte Laune ausgelöst? Und wie werde ich sie wieder los?

Als ich gestern Abend die Narbensalbe benutzte, fiel mir zum wiederholten Mal die Verhärtung unter der Narbe auf. Ein Knoten. Ich habe den Knoten bereits von der Strahlenärztin, der Frauenärztin und der Ärztin im Sanatorium abtasten lassen, sie sind alle derselben Meinung: das kann nichts bedrohliches sein, was ich natürlich – ganz hinten in meinem Kopf – befürchte. Diese Furcht habe ich im Griff, sie kommt nur sehr selten zum Vorschein. Wie eben gestern Abend.
Den Nachsorge-Termin zur Sonographie habe ich Anfang Oktober, ich überlege, was ich in der Zwischenzeit mache.

Ausserdem habe ich heute das erste Mal fünf Stunden gearbeitet, ich steigere die Arbeitszeit langsam. Und dann passiert es, natürlich an einem Montag morgen: ich fange an, diverse Sachen gleichzeitig zu machen, skype, telefoniere, maile, lese dabei  Korrektur, ordere einen Newsletter beim Drucker, diskutiere wegen einer Anzeige, die ich grottenschlecht finde aber die anderen Kollegen nicht, verabrede mich morgen zu zwei Meetings – und bin gestresst. Ich ermahne mich. Ins alte Muster zurückfallen darf ich nicht.

Raus aus dem Stress, rein ins Büro des Technischen Direktors, um über Lübeck, Norwegen und Angeln zu plaudern und ihn zu überreden, mit mir zum Lunch zu gehen. Eigentlich wolle er nur ein Brötchen am Platz essen, keine Zeit für eine richtige Pause – auch das kenne ich. Aber hier bin ich zumindest klüger geworden. Wir gehen ins Deans & David und bestellen Chicken Curry mit Gemüse und Mandeln, dazu trinke ich ein Wasser, danach gehen wir weiter in ein Café, wo wir draußen sitzen und ich mir einen frisch gepressten Orangensaft gönne.

Ich marschiere zu Fuss nach Hause, nachdem ich in vier Schuhgeschäften nichts gefunden habe, und auch das hebt meine Laune natürlich nicht. Ich jogge bis zum Spielplatz zur Piratenburg und hänge mich in die Seile, um die Bauchmuskeln zu trainieren. Im Garten dann eine Runde Taiji zum ‚Runterkommen, vor mir dreht die Queen Mary 2 auf der Elbe.

Ich denke an mein Wochenende in Wien, dass jetzt ansteht, am Samstag möchte ich ein Sektfrühstück beim Stephansdom geniessen. Im Email-Eingang ist Post vom Reisebüro, dass an meiner Winterreise bastelt. Ich schreibe ans Mamma-Zentrum, um abzuklären, ob ich diese Reise überhaupt machen kann oder ob ich mit gesundheitlichen Problemen zu rechnen habe. Bevor ich keine Antwort erhalte, buche ich nicht. Sicher ist sicher.

Sitze unschlüssig auf dem Sofa und überlege, was noch zur Verbesserung meiner Stimmung beitragen könnte.

Ich könnte mich auf das Aufwachen morgen früh freuen, das tue ich nämlich jeden Morgen. Wenn die Sonnenstrahlen über die Wände gleiten, die Möwen schreien und die Elbe an die Kaimauer plätschert.

18.08.2017

Zuhause.

Eine schöne Frau wird immer mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hat Khanom Basir einmal gesagt. Saba erwidert stumm: Aber eine kluge Frau macht ihre eigenen Regeln…
Dina Nayeli „Ein Teelöffel Land und Meer“

Ich bin kein zögerlicher Mensch. Es war eine neue Erfahrung für mich zu sehen, wie lange es gedauert hat, mich zu positionieren, was die Bedeutung (m)eines Schwerbehindertenausweises angeht.

Der Schwerbehindertenausweis ermöglicht ihren Besitzern, umsonst oder zu einem Sonderpreis Museen und andere Kultureinrichtungen zu besuchen. Das ist schön, für mich persönlich aber irrelevant, da ich diese Vorzüge auch durch meinen Presseausweis geniesse.

Den Punkt auf der Übersicht für Nachteilsausgleiche, dass Privatfahrten steuerlich abgesetzt werden können, verstehe ich nicht, was aber auch egal ist, denn ich habe kein Auto und fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In Bus und Bahn habe ich kein Anrecht auf einen Sitzplatz, denn ich bin weder seh- noch gehbehindert, glücklicherweise.

Es gibt einen Steuerfreibetrag, und das ist gut, denn ich habe seit Beginn des Dramas einiges an Mehrausgaben, was Ernährung, spezielle Pflegeprodukte und Salben angeht. Mittlerweile bin ich Stammgast in der Apotheke auf der anderen Straßenseite.

Keine Überstunden und fünf Tage mehr Urlaub passen zu meinem Vorsatz, den Stress bei der Arbeit zu reduzieren. Ausserdem habe ich meinen Arbeitsvertrag ändern lassen; statt 40 Stunden werde ich zukünftig 36 Stunden die Woche arbeiten und den Freitagnachmittag für sportliche Aktivitäten nutzen.

Ich fühle mich gesund und fit (bis auf ein paar kleine Einschränkungen), und dafür bin ich dankbar. Und hier bekommt der Ausweis dann doch noch seine besondere Bedeutung; der Ausweis steckt in meiner Brieftasche. Sobald ich sie öffne, sehe ich die giftgrüne Ecke, die mich daran erinnert, dass eben nicht alles ganz normal ist, auch wenn es sich so anfühlt. Der Ausweis dient mir als Reminder, achtsam zu sein. Den „Donnerschlag“, der mich Ende Februar traf, nicht zu vergessen und die mir geschenkte Zeit aktiv zu nutzen und nicht zu vertrödeln oder zu vergrübeln.

17.08.2017

Zuhause.

Seine Frau, so erzählte man sich, hatte den Männern Kaffee und Kuchen gereicht. Und wir alle wollten wissen: Was für Kuchen? Erdbeere? Rhabarber? Zitronenbaisertorte? 
Julie Otsuka „Wovon wir träumen“

S. ist als erste da, wir stehen zusammen an meinem Küchenfenster und freuen uns, als wir U., wie immer mit federndem, aufrechten Gang und wippendem Zopf, den Platz überqueren sehen. Es ist das erste Treffen nach unserer gemeinsamen Zeit im Sanatorium. Da ich täglich im Sanatorium über die ungesunde Ernährung geschimpft habe, habe ich mich besonders bemüht, politisch korrekte Snacks aufzufahren. Die Mädels registrieren das und sind begeistert. Auch S. hat zwischenzeitlich auf gesunde Ernährung umgestellt und versucht, Zucker zu vermeiden.

Wir freuen uns sehr, uns wiederzusehen. U. hat eine DVD mit Qigong-Übungen dabei, die sie gerade von ihrer Krankenkasse geschenkt bekommen hat. S. hat sich zu einem Yoga-Kurs angemeldet, ich habe bereits die Kostenübernahme für mein Rezept über 50 Stunden Aqua-Fit oder Gymnastik von der Krankenkasse genehmigt bekommen. Und wir alle sind bereits wieder beruflich im Einsatz. Läuft bei uns.

Es ist genauso wie im Sanatorium, wir reden unaufhörlich, lachen, fragen, tauschen uns aus, verabreden uns für das nächste Treffen bei U., wenn S. aus ihrem Urlaub zurück ist.  Und dann guckt uns S. ganz intensiv an, hebt ihr Glas und sagt: Wir schaffen das. Ich bin da ganz sicher.

15.08.2017

Unterwegs.

 

„Verabschieden?“
„Samstag in einer Woche. José hat die Flugscheine gekauft.“

Truman Capote „Frühstück bei Tiffany“

Habe mir spontan einen Flugschein gekauft. Und ein Hotel gebucht. Samstag in einer Woche gönne ich mir ein Sektfrühstück in Wien.

Nachdem ich mir heute einen Termin bei meinem Hausarzt geben lassen will, weil mir seit einigen Tagen die linke Kniekehle weh tut, kann ich gleich in der Praxis bleiben. Ich komme sofort dran, wie die letzten Male auch, ohne Termin und ohne Warterei. Entwarnung, keine Thrombose, und auch eine Metastase könne es nicht sein. Bei körperlichen Gebrechen denke ich in worst case Szenarien. Vielleicht bin ich gerade etwas übersensibilisiert, aber eine kurze Abklärung kann nicht schaden, im Gegenteil, ich solle bloß immer sofort kommen, wenn was sei, sagt mein Arzt.

Da nix ist, jedenfalls nichts, was mich vom Reisen abhalten könnte, kann es weitergehen mit der Umsetzung meiner Bucket-List. Nach Berlin folgt nächstes Wochenende Wien.

13.08.2017

Unterwegs.

 

Wir trennten uns. Ich wanderte noch lange in der Nacht umher. Ich konnte mich nicht entschließen, nach Hause zurückzukehren. Ich war so glücklich…
F.M. Dostojewski „Der Traum eines lächerlichen Menschen“

Es ist kurz vor 22.00 Uhr, eine warme Sommernacht, ich stehe unter einem Fenster, das zum Frannz Club gehört. Die Jalousien sind heruntergelassen, das Fenster ist aber geöffnet. Dahinter sind die pinken Haare von Leo P. auszumachen, der Schatten seines Kopfes und des Saxophons. Die Melodie, die er spielt, ist wunderschön, fasziniert höre ich zu. Dann muss ich mich losreissen, gehe in den Club hinein, es ist voll, hier in der Nacht, hier im Berliner Osten, hier, wo gleich Too Many Zooz auftreten werden.

An der Bar bestelle ich ein Bitter Lemon, das gibt es im Glas, mit Eis und Zitrone. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschenmenge zur Bühne. Ich möchte vorne stehen. Und dann ist er da, der Augenblick, auf den ich mich seit Anfang April gefreut habe: Der King of Sludge kommt auf die Bühne und gibt mit den drums den Rhythmus vor, es folgen, bereits  saxophonspielend, Leo P. und Matt Doe mit seiner Trompete. Das Publikum lässt sich sofort mitreissen, es tobt, springt, reisst die Arme in die Luft und jubelt. Und dann geschieht etwas, das selten ist und das ich seit dem Drama gar nicht mehr war. Ich bin glücklich.

 

07.08.2017

Unterwegs.

In recent years I’ve turned down trips abroad for these very reasons so why is it that I am about to fly all the way to America for the sake of a $12 coffee mug?
Mike Gayle, The To-Do List

Morgen ist es soweit. Ich werde den ersten Punkt, der auf meiner Bucket-List steht, umsetzen. Darauf habe ich mich seit Monaten gefreut.

Anfang April, kurz nach der Operation und ohne zu wissen, wie es gesundheitlich weitergeht, habe ich mir ein Ticket für das Konzert meiner Lieblingsband Too Many Zooz gekauft, die in einem Club auftreten, um 22:00 Uhr, einer Dienstagnacht, in Berlin, im August. Die Band spielt sonst am Union Square in New York in der U-Bahn-Station, und auch dorthin hätte ich die Reise angetreten, um sie einmal live zu sehen.

Der Besuch des Konzerts ist nicht nur der erste Punkt auf meiner Bucket-List, sondern war Anfang April auch meine Zielsetzung: bis zum 8. August bin ich wieder gesund. Ich werde mitten in der Woche nach Berlin fahren und nachts in ein – höchstwahrscheinlich wildes – Konzert gehen. Ich werde vor der Bühne stehen. Ich werde lachen. Ich werde tanzen. Ich werde Spaß haben. Ich werde leben.

Eben trifft mein Schwerbehindertenausweis ein. Auf dem Foto lache ich mir entgegen und sehe fit und fröhlich aus.  Noch habe ich mich nicht mit dem Begriff „schwerbehindert“ angefreundet. Vielleicht werde ich das auch nie tun. Und vielleicht ist das auch egal. Für die morgige Nacht sowieso.

02.08.2017

Im Büro.

 

Drop the thought! Lass den Gedanken fallen! Sobald dich etwas im Job oder sonst wo plagt, lass den Gedanken einfach fallen. Kaue nicht auf ihm herum, denn nur so erlöst du ihn.
Dalai Lama/Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“

Dann mal los, sage ich zu mir selbst und öffne die Haustür. In Bluse, Blazer, Jeans und mit Handtasche über der Schulter mache ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Mein erster Arbeitstag steht an – gestern war ich noch zum Schwimmen und zur Meditation, um optimal auf die Wende  vorbereitet zu sein. Es werden nur zwei Stunden sein, die ich im Büro verbringe – die Anzahl der Stunden wird sich über den Monat erhöhen, bis ich – so der Plan – im September wieder voll im Einsatz bin. Allerdings dann ohne Überstunden, die sind für Schwerstbehinderte in Deutschland verboten.

Der Bus fährt durch die Hamburger Innenstadt, es ist kurz nach Acht, die Geschäftsstraßen sind noch leer. Die Büroräume betrete ich durch den Hintereingang, ich möchte nach meiner Zeit im off nicht als erstes auf eine leere Rezeption treffen, an der du, liebe T., nicht mehr sitzt. Ich male mir trotzdem aus, dass du mich mit warmen Worten und einer festen Umarmung begrüsst hättest. Ich biege als erstes in die Küche ab, hole mir ein Glas Wasser und starte meinen Weg durch die Gänge. Meine Kollegen freuen sich, mich wieder zu sehen, einige umarmen mich.  Ich öffne die Tür zu meinem Büro, statt eines befürchteten Chaos leuchtet mir eine Light-Box mit Willkommensgruß entgegen, Blumen, Bonbons und eine Karte vervollständigen die Deko auf meinem Schreibtisch. Ich freue mich.

Nachdem ich meine Post sortiert und die ersten Infos eingeholt habe, gehe ich zurück in die IT-Abteilung, ich habe mein Passwort für den Computer vergessen. Der Kollege lacht. Der PC ist langsam, er lädt die tausenden emails, die sich über die letzten Monate angesammelt haben. Ich schaffe es mit Müh und Not, ein email an den Vorgesetzten auf Zypern mit Betreff „hello again“ zu versenden und einen Wink-Smiley via Skype an meinen Grafiker zu schicken (darauf habe er sich schon so lange gefreut, so die postwendende Antwort), bevor der PC ins Stocken gerät, 2.100 emails hat er bereits hochgeladen. Die nächsten tausender warte ich nicht mehr ab.

Ich rufe R. auf Zypern an, der meine Abteilung kommissarisch während meiner Abwesenheit übernommen hat. Er klingt erleichtert, als er meine Stimme hört. Auch dass er die nächsten Wochen weiter an „meinen“ Themen arbeiten wird, bringt ihn nicht mehr aus der Fassung, wir vereinbaren, dass ich einzelne Projekte in den nächsten Wochen übernehme, die ich in meiner verkürzten Arbeitszeit angehen kann.

Gegen Mittag verlasse ich das Büro, kaufe mir einen Salat und Himbeeren und gehe nach Hause. Der Nachmittag ist für mein Sportprogramm reserviert.

28.07.2017

Unterwegs.

 

Da ist Schwindel und entsetzliche Übelkeit von dem vielen geschluckten Salzwasser. Dann und wann ist jemand bei mir und flößt mir Wasser ein. Süßwasser. Köstliches, kühles, reines Wasser.
Lucien Deprijck „Die Inseln, auf denen ich strande“

Am Donnerstag habe ich den vorerst letzten meiner vielen Arzttermine. Die Humangenetiker hatten bei ihren Untersuchungen als „Beifang“ ein defektes Darm-Gen – NTHL1 – gefunden, welches das Darmkrebsrisiko erhöhen kann. Genaues könne man nicht sagen, die Forschung sei noch nicht soweit und mein Gen-Fehler in keiner Literatur verzeichnet. In drei Jahren könne ich wieder vorstellig werden, vielleicht sei die Forschung dann weiter. Ich lasse mich zum Gastroenterologen überweisen, der bei der Darmspiegelung einen Polyp findet und entfernt. Dank des Schlafmittels Propofol, an dem Michael Jackson gestorben ist, bekomme ich von der Aktion gar nichts mit, nach zwei Sekunden schlafe ich tief und fest. Und traumlos.
Nur die Einnahme der Lösung, den zweiten Teil um 4.15h morgens in der Früh, hat mich an meine Grenzen gebracht; nächstes Mal bekomme ich eine andere, sagt Dr. V., denn ich solle aufgrund meiner Vorbefunde alle zwei Jahre wiederkommen.

Auch die Nachsorge beim Augenarzt, zu dem ich wegen potentieller Nebenwirkungen meiner Medikamente regelmässig hingehen muss, verläuft unspektakulär, ich schiesse wieder auf grüne Punkte und wähne mich in einem Action-Spiel.

Dr. B., meinen neuen Gyn im Krankenhaus, suche ich am Dienstag auf; sie ist genauso angetan von meinem jetzigen Zustand wie die Strahlenärztin, und auch ich bin beeindruckt, wie mein Busen sich in seine Ursprungsform zurückverwandelt. Als sei nichts gewesen.

Zuhause Papierkram, Ablage und Briefverkehr mit Krankenkasse und Rentenversicherung, die mir den nächsten Schwung an Formularen schickt und dem Sanatorium, das noch Euro 4,95 von mir möchte. Ich fülle eine Überweisung aus und gehe zur Bank.

Und dann ist es wieder Zeit für eine Fahrt mit der Fähre. Die Traurigkeit scheint nicht mehr auf mich zu warten und das Schiff verlassen zu haben. Das ist gut, denn ich fahre gerne mit der Fähre und bin erleichtert, dass der Trigger fort ist. Das Erlebnis, weinend allein auf der Fähre im Regen zu stehen, nachdem ich krankgeschrieben wurde, hatte sich tief in mich eingegraben.

Der andere Trigger ist präsent: ich schaue in den blauen Himmel und sehe dort das Blau deiner Augen, liebe T., und denke an Deine letzten Worte, die du an mich gerichtet hast: ich drücke Dich ganz doll aus der Ferne.
Nächsten Freitag ist Deine Beerdigung. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, zu kommen. Ich würde dich gern verabschieden, habe aber Bedenken, ob ich stark genug bin für die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod und der Endlichkeit – Themen, die mich seit Beginn des Dramas begleiten. Lieber schaue ich in den blauen Himmel, fühle mich dir nah und lächele nach oben.

Jetzt ist der Himmel dunkel, das Unwetter kommt näher. Die Elbe ist grau und wird vom Sturm getrieben, das Glitzern ist fort. Der Regen setzt ein.

18.07.2017

Briefwechsel mit T.

 

Du: Hallo C., habe die OP gut überstanden und bin nur noch müde müde müde.

Ich: Oh wie schön, hab‘ an Dich gedacht! Morgen bist du schon wieder munterer! Hoffe, Dich bald wieder zu sehen. Und die Schmerzen werden langsam weniger, ist bei mir auch so…irgendwann sind wir wieder fit.

Du: Das ist richtig. Irgendwann sind wir wieder richtig fit.

Ich: Dann hast Du ja erstmal ne Woche Pause – mach da aber bitte nichts im Garten, Küche etc. Und lass Dir genügend Thrombose-Spritzen mitgeben! Das schaffst Du. Und Reha mach bloss stationär, nicht ambulant. Gleich kommt mein Taxi und fährt mich wieder zur Therapie. Danach liege ich auch wieder flach…

Du: Ich möchte einfach wieder nur fit werden und nicht jedesmal, wenn ich mir eine Tasse Tee mache, mich zehn Minuten hinsetzen müssen, weil ich pumpe wie ein junger Maikäfer.
Aber das wird schon werden über kurz oder lang.
Ich versuche einfach nicht aufzugeben und immer positiv zu denken.
Meine Kur bzw. meine Reha beginnt am 18.07. Ich weiß aber auch nicht, wie ich meinen Körper fit bekommen soll, wenn ich nach der kleinsten Anstrengung schon so aus der Puste bin.
Da ist mein Leben von der einen zur anderen Sekunde komplett auf den Kopf gestellt worden.

Ich: Wir müssen geduldig sein…

Ich: Weisst du was? Wir LEBEN. Das ist die Hauptsache. Dafür bin ich sehr dankbar.

Du: Da muss ich dir mal völlig recht geben.
Und wenn ich ehrlich bin, wir haben das schon nicht einfach, aber es gibt mit Sicherheit Leute, denen geht es noch wesentlich schlimmer als uns.
Das ist zwar auch kein Trost, aber im Gegensatz zu den Menschen sind wir noch relativ gut dran. Also immer Kopf hoch.

Ich: Das sehe ich hier auch in der Reha – hätte schlimmer werden können. Ist aber auch eine Willens-und Einstellungssache – ich bin sehr positiv. Viele andere sind zerbrochen und grau. Habe das auch schon mit der Psychologin hier erörtert.

Du: Ich drücke Dich ganz doll aus der Ferne.

(Auszüge)

Liebe T.,
gestern bist Du gegangen. Ich bin fassungslos und unendlich traurig. Du warst so stark und positiv und wolltest es schaffen. Aber das, was Dich die letzten zwei Monate getroffen hat, war zuviel, selbst für jemanden wie Dich. Ich habe so gehofft, dass wir unser gemeinsames Ziel erreichen und nach der Arbeit wieder durch die Hamburger Parks spazieren. Ich habe für Dich gebetet, ich habe auf Dich und das Leben getrunken. Beides hat nicht geholfen.
Ich bin Atheist, aber seit gestern schaue ich dauernd in den Himmel, der so blau leuchtet wie Deine Augen und denke an Dich. Ich bin sicher, dass Du irgendwo da oben bist und jetzt die Legendären fängst. Deine letzten Worte haben nun eine ganz neue Bedeutung bekommen: Ich drücke Dich ganz doll aus der Ferne.
Ich vermisse Dich.

16.07.2017

Zuhause.
Jetzt ist mir wieder eingefallen, was ich die Strahlenärztin fragen wollte. Ob ich meine Konzentration im Radiologischen Zentrum liegen gelassen habe, vermutlich bei dem dicken grünen Männchen.

Vergessen tu ich auch den Überweisungsschein komplett auszufüllen, im Treppenhaus fällt es mir auf, ich laufe zurück und vervollständige den Schein für die Taxizentrale, die von mir eine Zuzahlung von Euro 5,- für die über 40 Fahrten zum Radiologischen Zentrum bekommt.
Die gerade frisch gefüllte Kaffeetasse kippe ich um, nachher werde ich die zweite Ein-Euro-Münze im ersten Schliessfach im Schwimmbad vergessen, die ich für das zweite Schliessfach aber brauche. Ich übe mich weiterhin in Nachsicht mit mir selbst. Äußerlich bin ich unauffällig und mache einen sortierten Eindruck.

Ich beschliesse, mein tägliches Sport- und Meditationsprogramm zu optimieren: drei Einheiten pro Tag – zuzüglich zu den gängigen Aktionen wie Einkaufen oder (bald wieder) zur Arbeit gehen. Die drei Einheiten kann ich flexibel halten und auswählen, wozu ich gerade Lust habe, wobei mindestens eine Einheit Ausdauersport und mindestens 20 Minuten lang sein muss.

Am Samstag gibt es
– 30 Minuten Walking
– 20 Minuten Wirbelsäulengymnastik
– 21 Minuten Jacobsen-Entspannung

Heute
– 21 Minuten Jacobsen-Entspannung (note to myself: besser an den Abend legen, nach Jacobsen schlafe ich ein)
– Schwimmen (note to myself: Sonntag Mittag sind nur arschbombende Väter, quietschende Mütter und schreiende Kleinkinder im Indoor-Pool, und draussen ist es zu grau und verregnet um im Outdoor-Pool Bahnen zu ziehen)
– 30 Minuten Walking, inclusive einer Spezial-Einheit auf dem Spielplatz (Trampolinspringen und Freestyle-Bauchmuskeltraining, die Taue an der Piratenburg bieten sich an).

Irgendwo finde ich sicher die Konzentration wieder, auf einem meiner Wege.

14.07.2017

Im radiologischen Zentrum.

Es sei die Dolmetscherin der russischen Privatpatientin am Telefon, eine sehr spezielle Person und nicht einverstanden mit dem MRT-Termin, so die Rezeptionistin, als sie diese an den Arzt durchstellt. Der Patient vor mir in der Reihe sagt der Rezeptionistin, er sei auch Privatpatient und auch speziell – er könne die Uhrzeit seines nächsten Termins auf dem Infozettel nicht entziffern. Ich sei kein Privatpatient, beginne ich, als ich dran bin. Aber auch sehr speziell, Frau xy, antwortet die Rezeptionistin schlagfertig. Ich bin beeindruckt, dass sie nach sechs Wochen tatsächlich meinen komplizierten Namen weiß, bei den Hunderten Patienten, die hier täglich eintreffen. Das sage ich ihr. Sie grinst, ich sei der einzige weibliche Patient an diesem Morgen im Kalender, den sie sich schon angeschaut hatte.

Die Strahlenärztin strahlt, sie sei sehr zufrieden mit dem Zustand der bestrahlten Haut, glatt, weich, keine Verhärtungen, bis auf die Narbengegenden, die sich aber noch verbessern werden, so lange seien Operation und Bestrahlung noch nicht her. Sie kann mich auch beruhigen, als ich ihr von der schwarzweiß-Aufnahme meiner Rippen erzähle, die ich auf dem screen bei der Bestrahlung gesehen und auf dem ich weiße Punkte und Wölkchen ausgemacht hatte. Keine Metastasen sondern die Lunge, erklärt sie, und wir gucken uns auf ihrem Bildschirm alle Aufnahmen an, während sie erklärt. In einem Jahr könne ich wiederkommen, sie halte gern Kontakt.
Eine Krankschreibung, die ich ab heute brauche, dürfe sie leider nicht ausstellen, das könne nur der Hausarzt oder der behandelnde Arzt.
Das war nicht geplant.

Ich wandere zum Hafen runter, nehme die Fähre Richtung Heimat und Hausarzt und betrete die Praxis. Sie ist voll. Ich bräuchte ab heute eine Krankschreibung, aber hätte leider keinen Termin, sage ich. Es ist 11:OO Uhr, um 12:00 Uhr ist Feierabend, das habe ich schon auf dem Eingangsschild gesehen. Setzen Sie sich, sie kommen gleich dran, antwortet die Arzthelferin, und tatsächlich werde ich fünf Minuten später aufgerufen.

Frau Dr. S. freut sich, mich zu sehen, sie hätte gestern schon meine Arztbriefe vom Krankenhaus, der Radiologie und dem Humangenetiker gesehen, die ich per email gesendet hatte. Gut sehe ich aus, und das sei nicht selbstverständlich. Kurz denke ich an Prof. Dr. M., der damals dasselbe feststellte und an meine Mit-Patienten in der Reha. Es ist nicht selbstverständlich.

Sie stellt mir die benötigte Krankschreibung aus und weist darauf hin, dass ich aus ihrer Sicht sehr früh wieder ins Berufsleben starten möchte. Ich könne jederzeit die stufenweise Wiedereingliederung abbrechen, wenn der Zeitplan nicht passt. Und schlägt vor, ich solle auf alle Fälle im September drei Wochen Urlaub nehmen, Urlaubstage müsste ich jetzt ja genug haben. Die Idee gefällt mir.
Eine Überweisung zur Darmspiegelung – die Humangenetiker hatten bei der Untersuchung im März ein defektes Gen ausgemacht – bekomme ich auch, genauso wie ihren Vorschlag, wie wir mit der avisierten Schilddrüsen-OP weiter verfahren. Im Herbst. Vorher gehen wir das Thema nicht an.

Draußen scheint die Sonne, die Elbe glitzert. Alles ist gut.