Unterwegs.
Das erste, was ich vorm Spiegel in der Damenumkleide des öffentlichen Bades sehe, ist eine große goldfarbene Tasche und ein Schal mit Glitzer. Das kann nur einer gehören, denke ich. Kurz darauf erscheint G. Hallo A., ruft sie, du bist spät dran! Ich habe dauernd zur Tür geschaut, ob du kommst!
Ich bin zu spät, ich war vorher noch bei der Bank, jetzt ist meine Schwimmfreundin bereits auf dem Rückzug. Fuerteventura war klasse, sie habe den Pool für sich gehabt, die anderen Gäste saßen nur faul drumherum. Außerdem war sie diese Woche schon dreimal zur Gymnastik, G. erzählt und glitzert vor meinen Augen, braungebrannt im hellen Wollpullover mit Kristallsteinchen-Besatz, ob sie die Mütze aufsetzen solle? Ja, sage ich, und die weiße Flauschmütze mit grünem Bommel landet auf ihrem Kopf. Hyazinth, der kleine Spanier, sei noch da, der sei ja immer vier Stunden im Bad, aber wo solle er auch sonst hin, sagt G., als Rentner mit einer Einzimmerwohnung. G. weiß alles und teilt alles, wir verabschieden uns und hoffen, dass wir bald wieder zusammen unsere Bahnen ziehen.
Es stürmt, es regnet in Strömen, und es ist kalt, als ich in den Außenbereich schwimme. Dampf steigt auf, die Regentropfen werfen kleine Ringe auf der Wasseroberfläche, links von mir pflügen die Kampfschwimmer durch’s Becken, rechts von mir bewegt sich das Walross langsam unter der Wasseroberfläche.
Immerhin habe ich meine turbanähnliche (und fürchterlich aussehende) Badekappe auf dem Kopf, da bleiben die Haare und Ohren trocken. Eine Dame taucht auf, mit einer Kopfbedeckung, die aussieht wie die Deckelverzierung eines Einmachglases, ein weißes Häubchen mit Gummiband drumherum. Ihre Arme wirft sie in die Luft und deutet damit eine Kraulbewegung an. Eine weitere Dame erscheint, ihr anscheinend langes Haar ist unter einer schwarzen Plastikschlange versteckt, es sieht aus, als hätte sie einen Fahrradreifen auf dem Kopf. Da bin ich mit dem Turban doch noch im oberen Bereich der Badeoutfits anzusiedeln, denke ich.
Hier im Becken vergesse ich die ernsten Gedanken, die mich heute bewegen: es berührt mich, wenn ich in der Zeitung lese, daß jemand verstorben ist, jung, fast plötzlich, kämpfend – ich weiß dann, um was für eine Krankheit es sich handelt. Es berührt mich, wenn Mitstreiterinnen, deren blogs ich verfolge und die genauso wie ich hoffen, dass alles gut bleibt, mit Knochenmetastasen in die zweite Runde gehen. Es ärgert mich, wenn Unwissende – auch wenn es lieb gemeint ist – dieses mit sinnfreien Sprüchen wie „du schaffst das schon“, „das wird schon wieder“, „du bist stark“ usw. kommentieren.
Fakt ist: ein Rezidiv bei Brustkrebs, das als Metastasen auftritt, ist zu 100% unheilbar. Palliativ-Behandlung heißt es dann – der Erkrankten eine möglichst lange und schmerzfreie Zeit zu ermöglichen. Da wird nix wieder. Da ist nix zu schaffen. Und genau das ist es, was Brustkrebs so düster macht: ein Erstschlag kann geheilt werden. Ein Zweitschlag (in Form von Metastasen) nicht.
Es macht jetzt keinen Sinn, zuhause zu sitzen, in Schockstarre zu verfallen und depressiv zu werden. Es macht Sinn, jeden Tag als etwas besonderes und als nicht selbstverständliches zu begreifen. Es macht Sinn – soweit es in der eigenen Macht steht – alles dafür zu tun, um die „Chance“ auf ein Rezidiv zu reduzieren. Und genau deshalb bin ich recht streng mit mir, was Ernährung und mein Sport- und Meditationsprogramm angeht. Und auch stolz darauf, dass ich bei Wind und Wetter im Aussenbecken des öffentlichen Bades anzufinden bin und nicht hygge-mit-Kerze-und-Chips auf dem Sofa vorm TV rumliege.
Im übrigen bringt es mir auch Spaß, und es tut mir gut, denn mein Fitnessprogramm kompensiert den Stress, den ich im Berufsleben habe.
Ich überprüfe den Einkaufskorb, alles drin, sage ich.
Nein, antworte ich, der Schokoriegel fehlt.
Aber es gab am Mittwoch den Frankfurter Kranz.
Aber schon letzte Woche hast du den Schokoriegel vergessen. Außerdem bist du 45 Minuten im strömenden Regen draußen geschwommen, das muß belohnt werden!
Ist es nicht schon eine Belohnung, nach der Arbeit schwimmen zu gehen und das Leben zu genießen?
Jetzt wirst du aber philosophisch.
Diskussionen mit mir selbst gefallen mir, eine Lösung gibt es immer. Und heute gibt es den Schokoriegel.