Angst oder keine Angst?
„Ich habe vergessen, Angst zu haben“. Mein Gegenüber lacht mich etwas überrascht an. Er, der Höhenangst hat und es hasst, über die schmale Brücke zu gehen, die zu meinem Haus führt, hat die Hürde gemeistert, ohne an sie zu denken. Vielleicht hat er einfach daran gedacht, dass gleich ein schönes Dinner ansteht.
Ich packe meine Schwimmtasche und überlege, wann ich wohl im Aussenbecken des öffentlichen Bades eintreffen werde. Zwischen dem Packen und dem Aussenbecken muss ich zur Nachsorge in mein kleines Krankenhaus. Erst in die Radiologie zum Ultraschall und zur Mammographie, dann zu meiner neuen Ärztin, da meine jetzige in den Ruhestand gegangen ist. Ich habe keine Angst vor den Terminen. Es gibt auch keinen Grund dafür.
„BIs nächstes Jahr“, sagt die Radiologin. Alles ist gut. Ich fahre in den vierten Stock – unterdrücke aufkommende Tränen der Dankbarkeit – und lerne meine neue Ärztin kennen. Sympathisch ist sie und sehr kompetent, das stelle ich in unserem ausführlichen Gespräch fest. Es klopft an der Tür, „mein“ Lebensretter/Chirurg/Onkologe kommt herein. Jetzt möchte er aber unbedingt „seine“ Patientin begrüssen, die er schon im Wartezimmer gesehen habe! Und mir ausserdem sagen, wie sehr er sich über meine Postkarte gefreut habe, die ich ihm im März zu meinem fünften Jahrestag gesendet habe. Das käme nicht oft vor. Und er finde es toll, dass ich – die er als sehr strukturiert kennengelernt hat – so einiges in ihrem Leben geändert hat. Ich freue mich sehr über diese warmherzige Begrüssung und auch über meine neue Ärztin, die sagt, dass ich immer kommen könne, wenn etwas sei.
Angst ist ok, solange sie punktuell/zeitlich begrenzt und begründet ist. Dann ist Angst ein natürlicher Helfer, der das Bewusstsein schärft und einen aktiv werden lässt. Wenn ich z.B. im Arztbrief aus der Nuklearmedizin die Worte „maligne, abklärungsbedürftig, cancerguideline“ lese. Oder wenn ich Schmerzen im Knie habe oder in der Achselhöhle. Was tue ich bei solchen Ängsten: ich setze mich hin. Ich atme tief ein und aus. Ich überlege mir Lösungen: die Nuklearmedizin im großen Krankenhaus anrufen und sich den Arztbrief erklären lassen. Zum Radiologen gehen um das Knie unter die Lupe zu nehmen. Die schmerzende Achsel per Ultraschall untersuchen lassen.
Angst ist dann nicht mehr gesund, wenn sie permanent da ist und den Körper und die Seele stresst. Mein teils unerforschter Gendefekt, von dem ich fast sicher bin, dass er an meinem beidseitigen Brustkrebs schuld ist, könnte mir permanent Angst machen. Das lasse ich allerdings nicht zu. Ich ignoriere diesen Defekt nicht, kann ihn aber weder ändern noch die Forschung beschleunigen. Ich erwähne ihn (wie heute im Gespräch mit der neuen Ärztin), aber packe das Thema wieder in ein Kästchen ganz hinten in den Kopf. Permanente Angst macht keinen Sinn. Sie nimmt nur Lebensqualität und schadet der Gesundheit mehr als der Gendefekt an sich.
„Ich habe vergessen, Angst zu haben“, sagt mein Gegenüber und freut sich.
Ich freue mich auch.