Prolog
Wie komme ich eigentlich auf Brindisi? Ich habe gegoogelt. Weiße Häuschen, die sich übereinanderstapeln, den Berg hinauf und dann hinunter bis ans hellblaue Meer, eine Promenade mit Palmen säumend, über der die Sonne scheint, die Szenerie ist leicht und heiter wie ein Aquarell. Dieselben Bilder bei Nacht; der Himmel schwarz, wie es das nur in Italien gibt, die Gassen erleuchtet von den gelben Straßenlaternen, die quirligen Einwohner treffen sich auf dem Dorfplatz auf den Bänken, die Kinder spielen zu ihren Füssen, Gelächter, das Geklirre der Gläser in den Bars mengt sich mit dem Hupen der herumwuselnden Mopeds und der Musik des Karussels. Ich liebe diese nächtliche Stimmung mit ihren gelben Farben, der weichen Luft und der Geräuschkulisse, so oft habe ich sie erlebt, in Livorno nachts vor der Kirche, durch den Torbogen hindurch spazierend, in Marina di Pisa am Meer vor dem kleinen Straßenrestaurant, wo wir auf weißen Plastikstühlen die leckersten Speisen aßen, mit offenem Dach im grünen Jaguar im Fahrtwind an der Küste entlangdüsend, meine Hand auf Deinem Knie, Dein Blick trifft meinen, wir schmunzeln, das waren die guten Momente. Zuviele Erinnerungen, die mich an diese Orte nicht zurückkehren lassen, zu schwer die Last, dort die Erinnerungen allein tragen zu müssen.
Brindisi wird es sein! Die Flüge und das Hotel sind schnell gebucht, nicht ganz so schnell gestaltet es sich mit den drölfzig Formularen, die für die Reise ausgefüllt werden müssen. Formulare für die Schweiz (auch wenn es nur Transit ist). Formulare für Italien. Da möchte man ja hin. Formulare für Apulien. Dort liegt Brindisi. Ich fülle aus, ich lösche, ich fülle neu aus, ich hoffe insgeheim, dass ich es annähernd richtig mache und nicht bereits am Flughafen Fuhlsbüttel strande. Brindisi. Wieso kommt es mir so bekannt vor, auch wenn ich dort noch niemals war? Irgendwann fällt es mir ein: Verdi! La Traviata! Die Arie! Brindisi! Ich bin erfreut und wohl die Einzige, die eine Reise nach Brindisi aufgrund einer gleichnamigen Opernarie antritt, allerdings bin ich wohl auch die Einzige, die aufgrund der Sissi-Verfilmungen auf Madeira gestoßen ist (um Jahre später festzustellen, dass die Madeira-Szenen nicht in den Gärten des Reids, sondern an der Amalfi-Küste gedreht wurden). <br><br>Ich tue das, was ich schon so oft getan habe. Ich packe meinen Koffer.
Tag 1
Ich mag es, wenn der Flieger früh am Morgen geht. Dann nehme ich ein Taxi zum Flughafen. Es fährt durch die dunkle Nacht, die Strassen glänzen vom Regen, das orangefarbene Licht eines Einsatzfahrzeugs blinkt durch die Tropfen der Fensterscheibe, aus dem Radio ertönt Musik.
Mehrfach habe ich die letzten Tage Einreiseformulare bearbeitet; teils falsch ausgefüllt, teils neu ausgefüllt, da die Airline in letzter Minute meinen Sitzplatz geändert hat. Die Schweizer werfen einen kurzen Blick auf mein Handy mit dem Transit-Formular und winken mich durch. Na, das war ja einfach. In Brindisi steuere ich zwei Offizielle an, neugierig, was ich als erstes zücken muss: den Ausweis? Den Impfnachweis? Den Antigen-Test? Die Einreiseformulare für Italien? Oder die Einreiseformulare für Apulien? Die Offiziellen winken ab: nichts bräuchte ich vorzeigen. Ich bin verblüfft: sie scheinen genauso eine Abneigung gegen Formulare zu haben wie ich.
Mein Hotelzimmer entpuppt sich als grosszügig geschnittene Wohnung, die über zwei Etagen geht und über zwei Balkone, zwei Fernseher, ein Schlaf- und ein Wohnzimmer mit inkludierter Küche verfügt. Eine Küche brauche ich nicht. Ich möchte lieber die Restaurants besuchen.
Besuchen tue ich erstmal die Dachterrasse mit Blick über die Dächer von Brindisi und einem kleinen Pool.
Ich schaue vor die Tür. Nicht, ohne erst zu testen, wie ich mit dem Plastikkärtchen wieder durch den Hauseingang zurückkomme, eine permanent besetzte Rezeption gibt es nämlich nicht. Verwinkelt sieht es aus, ich muss mich konzentrieren, denn ich bin Orientierungslegastheniker. Ich finde den Hafen, schlendere die Palmen-Promenade entlang, schön ist es hier und leer ist es hier. Überhaupt sehe ich so gut wie keine Menschen und erst recht keine Touristen.
Der Himmel ist grau. Wird es so früh dunkel in Italien? Oder wird es regnen? Ich öffne den Schirm und beschliesse, in das einzige geöffnete Restaurant zu gehen, ich sitze draussen am Hafen und esse den schlechtesten Caesarsalat meines Lebens.
Ich wandere zurück zum Corso Garibaldi, entdecke die Abzweigung (yeah!), die ich zu meinem Haus nehmen muss, biege aber in eine andere Gasse ein und betrete ein Reisebüro. Ausflüge in die Umgebung? Die Dame verneint, die gebe es nur im Juli/August. Ich spaziere wieder hinaus und in einen riesigen Supermarkt hinein (ich liebe es, im Ausland die Supermärkte zu durchstöbern), kaufe Obst, Gemüse, Brot und etwas Käse, schliesslich habe ich ja eine Küche.
Ich gehe auf den Balkon. Der Regen hat aufgehört. Der schwarze Himmel legt sich über die Strassen, die gelben Lampen gehen an, ein Hund bellt.
Tag 2
Ich habe nichts geplant. Ich lasse das Frühstück stehen – da werden die Italiener und ich keine Freunde – und verlasse mein Haus. Hinunter an den Hafen, mal schauen, ob man das Hafenbecken umrunden kann, das Wasser schwappt dort an den Kai, die Sonne scheint. Schnell merke ich, dass die Entscheidung, den Rock aus- und die Jeans anzuziehen, falsch war. An Segelbooten und kleinen Yachten vorbei, hier und da ein leeres Café an der palmenumsäumten Promenade, ich gehe weiter, bis es nicht mehr geht. Maritimes Militärgebiet, Mauern mit Stacheldraht und ein hohes Tor versperren den Weg. Eigentlich sollte da auch eine Burg liegen. Ich stehe unschlüssig vor dem Tor, die Marinesoldaten mag ich nicht ansprechen. Ich trete den Rückzug an.
Wäsche flattert vor den Fenstern der gelbfarbenen Häuser, zwei Kochtöpfe stehen auf einer Fensterbank, in der Schule hört man Kinder singen, die Sonne scheint jetzt unbarmherzig auf mich herab. Spontan entschliesse ich mich, ins archäologische Museum zu gehen, ein Platz, an dem es erfahrungsgemäss gut gekühlt ist.
Vor 20 Stunden habe ich mich über die Küche in meinem Domizil echauffiert, nun stehe ich dort und bereite mir einen Salat zu.
Die nächsten Stunden verbringe ich am und im Rooftoppool, dann geht es in eine Gelateria.
Ich kaufe Postkarten. Briefmarken gibt es nicht im Tabakladen, da müsste ich zur Post. Ich laufe zur Post. Aha! Der aufmerksame Leser wird irritiert sein, wie ein Orientierungslegastheniker nun zielstrebig die Post ansteuern kann. Und ja, das geht; die Post liegt nämlich gegenüber des Tabakladens.
Habe ich mich bisher gewundert, dass es so gut wie keine Menschen in Brindisi gibt: hier sind sie also allesamt versammelt. Voll ist es in der Post, ich muss eine Nummer ziehen und warten. Und warten. Und warten.
Endlich wird meine Nummer aufgerufen. Ich sage, was ich möchte, der Beamte spricht kein Englisch. Ich wiederhole auf italienisch. Der Mann springt auf und verschwindet hinter der blauen Wand durch eine ebenso blaue Tür. Ich warte. Und warte. Das ist meine Aufgabe, denke ich: sich in Geduld üben. Sich nicht aufzuregen wegen Kleinigkeiten. Natürlich bin ich kurz davor, meine Wartenummer zu zerknüllen und die Post wütend zu verlassen, da kehrt der Beamte durch die blaue Wand zurück. Er setzt sich, nimmt eine Büroklammer und steckt die Marken sorgfältig zusammen. Dann erklärt er mir ausführlich, dass auf jede Karte zwei Marken gehören (was offensichtlich ist). Meine Geduld wird strapaziert, ausserdem muss ich auf Toilette.
Ich nehme die Marken, marschiere nach Hause, und wie gut, dass es hier eine Küche gibt, da mache ich mir gleich noch einen Salat.
Tag 3
Tempio di San Giovanni, Palazzo Granafei Nervegna, Pontificia Basilica Cathedrale und Chiesa di San Benetto notiere ich mir beim Frühstück. Über diverse andere Sehenswürdigkeiten bin ich bereits per Zufall gestolpert oder sie befinden sich ausserhalb meines Radius.
Ich beschliesse, mein Handy zur Navigation zu nutzen, um zumindest das eine oder andere wirklich zu finden. Rechts aus dem Haus, die Strasse hinunter, dann durch die nächste Gasse und ums Eck, und schon stehe ich überraschenderweise vor dem grossen weissen Postgebäude, in dem ich gestern einige Zeit verbracht habe. Ich marschiere weiter, noch ist es früh und die Sonne angenehm und tatsächlich finde ich den Tempio di San Giovanni. Ein Italiener spricht mich an, ob er mich davor fotografieren solle, molto gentile, ma no. Die Dame am Eingang möchte meinen green pass sehen. Meine apps zeigen meine Covid-Zertifikate allesamt in blau an, aber verwandeln sich in den green pass, als der QR-Code gescannt wird. Ich darf eintreten. Rotunde, alte Gemäuer und ein Garten mit Blumen, Sträuchern, Brunnen und Olivenbäumen, eine kleine Oase inmitten der Mauern.
Auf dem Weg zum Palazzo treffe ich wieder den Italiener, ob er ein Foto…molto gentile, ma no. Ich frage ihn, wo der Palazzo liegt (anderswo als mir mein Handy anzeigt) und gehe meines Weges. Wieder werden meine Zertifikate gescannt, wieder darf ich eintreten, und wieder mal habe ich mich gar nicht informiert, wo ich gerade gelandet bin. Der Palazzo scheint eine Mischung aus Behörde (ich lande prompt in einem Büro), Studienzimmer, Ausgrabungsstätte und einer Kunstausstellung zu sein. Ich schaue mir alles an und finde sogar wieder hinaus.
Zum Tempio di San Giovanni sollte ich gehen, meint ein Italiener. Ich werde hier permanent angesprochen, vermutlich, weil ich der einzige Tourist in Brindisi bin. Da käme ich gerade her, ich möchte zur Kathedrale. Auch diese finde ich (hurray!), und ausserdem davor Soldaten, Polizei, Marine, Feuerwehr, die Hundestaffel, Einsatzfahrzeuge…und zwei weisse Wagen, auf denen was mit „sangue“ steht. Blutspenden, vermute ich, diesmal spreche ich einen Italiener an, ob man in die Kirche dürfte. Darf man.
Die Sonne steigt höher. Ich marschiere weiter zur Chiesa di San Benedetto. Hat geschlossen. Macht nichts. Gehe ich halt in die Angeli, an Kirchen mangelt es hier nicht. Einen Briefkasten bräuchte ich, aber die sind lt google rar gesät.
Ich lese am Pool, gehe in „meine“ Gelateria, esse wieder ein leckeres Hazelnusseis und trinke Cappuccino, steuere zielstrebig das Postgebäude an (alle Wege führen zur Post!) um die Karten zu verschicken, spaziere zum Hafen und von hier aus zur Kathedrale, in 200m sollte sie erscheinen, aber ich schaffe es, mich zu verlaufen, auch wenn das Ziel ums Eck liegt. Der Menschenauflauf vom Morgen ist verschwunden. Ein paar Vögel kreisen über der Kirche.
Heute werde ich eine Nachtwanderung machen.
Tag 4+5
Angekommen bin ich dann, wenn sich Rituale herauskristallisieren: der nachmittägliche Besuch der kleinen Gelateria, der Kauf von Obst und Gemüse im Supermarkt um die Ecke, der Aufenthalt am Pool an den Nachmittagen, das Innehalten an der Promenade am Meer, das selbstverständliche Bewegen durch die Gassen, das Beobachten des Geschehens um mich herum.
Gestern habe ich ein kleines blaues Boot beobachtet. Hier gibt es einige Boote, unter anderem eine Fähre nach Korfu. Da muss ich also genau aufpassen, auf welches Boot ich steige. Ich möchte auf die andere Seite zum Marine-Denkmal. Ich hole mir ein Ticket am grünen Automaten, vergewissere mich, dass ich hier richtig bin, und schon geht es los nach Korfu – Quatsch – zum Denkmal. Das ist dann auch sportlich, unzählige Stufen führen bis auf eine kleine Aussichtsplatform, die einen grandiosen Ausblick auf Brindisi im sanften Licht der Nachmittagssonne bietet.
Seit Tagen bleibe ich am Schaufenster eines Brillengeschäftes stehen. Schön sieht es aus, das Objekt meiner Begierde, so schön, dass es kein Preisschild hat, aber der Blick ins Internet verrät, dass es mein Budget weit überschreitet.
Ich gehe hinein. Ich halte der Optikerin meine alte Sonnenbrille hin, ob sie die reparieren könnten. Können sie. Sie möchte nicht einmal Geld dafür annehmen, vielleicht auch, weil es ein italienisches Modell ist. Ich wage nicht zu fragen, ob ich die Brille aus dem Schaufenster mal aufsetzen dürfte, was in diesem Fall auch besser sprich: vernünftiger ist.
Ein Eis stelle ich mir in Aussicht, als Kompromiss.
Morgen werde ich sicher wieder vorm Schaufenster landen. Es wird Zeit, dass ich abreise.
Tag 6
Kurze Version: pleite aber glücklich.
Lange Version: ich wandere ein letztes Mal am Meer entlang, sitze am Wasser, trinke einen frischen Orangensaft im Café und besuche ein letztes Mal die Kathedrale, die ich – genauso wie das grosse weisse Postamt – mittlerweile im Schlaf finde.
Mein Spaziergang endet vor dem Schaufenster des Optikers. Oh no! Panik. Dort, wo bis gestern noch mein Objekt der Begierde ausgestellt war, liegt nun eine andere Sonnenbrille. Ich schaue durch die Tür. Eine Kundin verabschiedet sich mit einem Päckchen in der Hand. Das kann doch nicht wahr sein. Ich stürme das Geschäft, bis gestern sei doch im Fenster diese Sonnenbrille…man schaut mich etwas verständnislos an, leider verstünde man kein englisch. Ich wiederhole auf italienisch, die Optikerin nimmt die Brille aus dem Fenster, nein, nein, ein Missverständnis, ich meine doch eine andere Brille, die dort eben nicht mehr ist. Die Optikerin zieht eine Kollegin zu Rate, zu Zweit durchsuchen sie Schubladen und Schränke, und dann finden sie das Objekt meiner Begierde. Erleichterung! Ich setze sie auf. Sie passt perfekt. Sie sieht perfekt aus. Perfetto, sagt die Optikerin. Ich frage nach dem Preis. Es ist der, den ich bereits im Internet recherchiert habe. Der Schock sitzt tief, was man mir ansieht. Man bietet mir einen Rabatt an. Puuuh. Man bietet mir einen weiteren Rabatt an. Immerhin 50 Euro weniger. Ich nehm die Brille, höre ich mich sagen.
Ich nehme die Brille ab, die Optikerin setzt sie mir wieder auf die Nase, um zu schauen, ob man sie anpassen müsse. Sie ist perfekt, sagen wir beide.
Ich darf aus verschiedenen Etuis wählen, bekomme zwei Brillentücher, eine weitere Box, die ich gleich dort lasse, in 15 Minuten holt mich das Taxi vom Hotel, das mich zum Flughafen bringt, jetzt muss ich mich beeilen. Mehr Shopping ist zum Glück nicht drin.
Pleite aber glücklich. Arrivederci, Brindisi!



















