Prolog.

Ich möchte das Nordpolarmeer sehen.
Ich möchte die Nordlichter beobachten, die gelb-grün am schwarzen Himmel tanzen und die Eisberge im dunklen arktischen Meer verzaubert strahlen lassen.
Ich möchte die klare Luft fühlen, kalt, salzig und rau, die durch die Dänemarkstraße nach Ostgrönland zieht.
Ich möchte die Gischt im Gesicht spüren, salzig und kühl, während wir in Schlauchbooten durch das ewige Eis gleiten.
Ich möchte die Wale sehen, deren Rücken glänzend aus dem Meer auftauchen, bevor sie wieder in der Tiefe verschwinden.
Ich möchte die Gletscher kalben hören, das dumpfe Grollen und das laute Krachen, wenn sie zusammenbrechen.
Ich möchte die Eisberge sehen, die in unendlich vielen Blautönen glitzern und unseren Weg in die Kälte säumen.
Ich möchte am Tag die helle Sonne sehen und nachts den Mond. Und die vielen Sterne, hoch über uns.
Ich mache mich auf den Weg.

Tag 1

Der dritte Bus, den ich innerhalb weniger Stunden in Reykjavik besteige und der mich zu Bus Nummer 4 bringen wird, weckt Heimatgefühle: sämtliche Beschriftungen sind auf deutsch, die Sitze aus bekanntem grau-roten-Stoffbezug, auf denen „Hochbahn“ zu lesen ist. Moin, Moin, Reykjavik!

Ich steige in Bus Nummer 4, den ich nach Durchquerung des Busterminals auf der anderen Seite finde, und dann geht es los mit dem Golden Circle Express. Nationalpark, Geysire und Wasserfälle stehen auf dem Programm. Wir fahren durch bergiges Gebiet, Dampf steigt an den Hügeln auf und vermengt sich mit den Wolken, die grau und bleiern über einer faszinierend kargen Landschaft voller Felsen und Flüsse hängen.

Meine blonde Sitznachbarin kommt aus Yorkshire, lebt aber mir ihrem Mann, der weiter vorn im Bus zu finden ist, in Irland. Sie haben zwei Esel. Ich erzähle ihr von John-Willie, dem Esel, mit dem ich vor ein paar Jahren Irland durchwandert habe. Das Wetter war da im Übrigen genauso wie hier: Regen rinnt unablässig die Fenster hinunter, mehr als 8 Grad hat es nicht. Die Luft ist klar und frisch und, so die nette Britin, höre es ja immer auf zu regnen, wenn wir den Bus verliessen. Zumindest für die ersten Minuten.

Don’t test the temperature with your hands, it will burn. The nearest hospital is 62km away. Die Warnung vor den Geysiren, deren Wasser 80-90 Grad heiss ist, steht drohend vor den brodelnden Löchern. Vor mir bückt sich jemand, um den Finger ins Wasser zu halten. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?

Als ich mich abends im Hotel zum Gym aufmache, wimmelt es in der Lobby von Chinesen, die mit Thermoskannen bewaffnet sind. Ich bin mir fast sicher, dass sich unsere Wege morgen wieder kreuzen werden: morgen stechen wir in See.

Tag 2

In der Hotellobby treffe ich auf J., sie stammt aus Maine. Wir tauschen unsere Kabinennummern aus, auch sie hat als Solo-Traveller noch weitere Mitbewohnerinnen, die sie – genauso wie ich – noch nicht kennen gelernt hat. J. ist mir sympathisch, und ich bedauere es ein bisschen, dass wir nicht dieselbe Kabinennummer haben.

In Kabine 335 sind zwei Betten, eine Flasche Rot- und eine Flasche Weisswein mit vier Gläsern arrangiert – ein Upgrade, hatte ich doch eine Dreibett-Kabine gebucht. Eine Dame Mitte Siebzig tritt ein. Wache blaue Augen, weisse Haare, silberne Ohrringe, rundliche Figur. Willkommen, D. aus North Carolina! Einer ihrer Koffer fehle, stellt sie fest, und schon ist sie wieder verschwunden.

Später freuen wir uns, dass wir nicht nur jede eine Flasche Wein als Willkommensgruss bekommen haben, sondern auch freie Soft Drinks und alkoholische Getränke zum Lunch und Dinner geniessen dürfen. Das passe gut, sagt D., es gebe 19 Biersorten an Bord, die könne sie dann alle durchprobieren. Allerdings finde sie gerade ihren Zimmerschlüssel nicht. Ich helfe ihr beim Suchen.

Das Abendessen verpassen wir. Wir sitzen auf meinem Bett und schauen auf den Horizont. Wenn sie zurück nach Hause komme, gehe es erstmal zum Arzt, zum zweiten Mal habe sie Hautkrebs bekommen. Ich erzähle ihr vom Brustkrebs, auch D. hat ihre Ernährung umgestellt und reist jetzt durch die Welt.

Gerade kann sie aber ihr Ladekabel nicht finden. Ich helfe ihr beim Suchen.

In der Nacht wache ich auf. Es stürmt. Das Schiff scheint auf den Wellen zu schweben, bis es krachend wieder ins tosende Meer hinunterkippt, begleitet vom Stöhnen des Holzes und dem Klappern der vielen Fächer und Schubladen. Zum Glück haben wir unseren Wein sicher im Schrank verstaut.

Tag 3

Noch immer stürmt es. Die chinesische Übermacht an Bord hat sich merklich reduziert. Die Seekrankheit greift um sich. J. ist blass und fühlt sich nicht gut, D. bestelle ich ein Frühstück auf die Kabine. Im Restaurant lerne ich zwei Deutsche kennen sowie G. aus Georgien, Jay aus Wales, A. aus der Schweiz und G. und A. aus Chicago. R. der Oberkellner, begrüsst mich: Ms Anja, please have a look to the buffet – we have almond milk for you.

Ich bin sprachlos; auf dem Fragebogen, den man vor Antritt der Reise ausfüllen musste, hatte ich vermerkt, dass ich Wert auf gesunde Ernährung lege und Mandel- oder Kokosmilch bevorzuge. Mehr Service geht nicht.

Ich statte der Brücke einen Besuch ab, ich bin der einzige Gast.

Der Whirlpool auf Deck 5 ist abgedeckt. Ich setze mich in eine windgeschützte Ecke und schaue über das leere Deck. Hier haben wir nachts in der Antarktis zur Discomusik des DJ‘s getanzt, während sich das Eis immer dichter an die Sea Spirit geschmiegt hat. Titanic-Feeling.

Heute tanzen die Wellen.

Spucktüten sind die Gänge hinunter an den Wänden drappiert, das Bordshopping, das Kayak-Intro und der Vogelkunde-Vortrag werden verschoben, es ist ja kaum ein Passagier auf den Beinen. Zum Glück werden die für 16.00h angekündigten Crepe Suzette in der Lounge nicht verschoben. D. lasse ich auf der Kabine schlafen und trete den wackeligen Weg in die Lounge an. Ich plaudere mit G. aus Berlin und A. aus der Schweiz.

Ob ich ein Schokocroissant möchte, fragt D. Sie habe einige aus dem Hotel aus Reykjavik mitgebracht. D. sitzt in der Kabine auf dem Sofa neben ihren unausgepackten Koffern, in dem sich neben den Croissants noch Äpfel, Kekse, Müsliriegel und ein grosses Sortiment an Tabletten befinden. Ausserdem könne sie gerade ihre Wasserflasche nicht finden. Ich helfe ihr beim Suchen.

Kein Maskara heute, zu gefährlich bei dem Sturm, da könne man sich ja die Augen ausstechen, stellt meine quirlige Zimmergenossin fest.

Ich habe D. angeboten, beim Auspacken und Verstauen zu helfen, vielleicht später, nach dem nächsten Vortrag, und weg ist sie.

Nach dem Dinner hole ich mir an der Rezeption meine Charge Tabletten gegen Seekrankeit. Aufregung am Fenster, ich schaue hinaus: die ersten schneebedeckten Berge und ein hellblau schimmernder Eisberg tauchen auf. Vor uns liegt Grönland.

Tag 4

Eine weitere stürmische Nacht liegt hinter uns. Wellen krachen ans Kabinenfenster, der Horizont lässt sich im Schwarz des Meeres und des Himmels nur erahnen. Die Sea Spirit ächzt und knarrt, während sie sich vorwärts kämpft.

Irgendwann liegt sie still. Die Ankerkette rasselt, ich schaue aus dem Fenster: kleine bunte Holzhütten verteilen sich in einer bergigen, schneebedeckten Landschaft. Ittoqqortoormiit ist die einzige Ortschaft, die wir auf dieser Reise sehen werden. 300 Einwohner gibt es hier, wir werden gebeten, im Supermarkt kein Obst und Gemüse zu kaufen. Es wird nur zweimal im Jahr angeliefert und ist rationiert. Also werfe ich nur einen kurzen Blick in den kleinen Laden, in dem es vorrangig Fleisch, Brot, Nudeln und etwas Kleidung zu kaufen gibt. In der Tiefkühltruhe liegen zwei Tüten mit Erbsen und Wurzeln. Frisches Obst und Gemüse gibt es nicht.

Das kleine Museum ist sehr schön, Postkarten gibt es im Touri-Centre (ein kleiner vertäfelter Raum), und wir schauen der Hundefütterung zu. D. hat eine zusätzliche Fahrt mit dem Zodiac genossen, da sie ihr Portemonnaie an Bord vergessen hat.

Am Nachmittag steht eine etwas beschwerlichere Wanderung auf die hügelige Umgebung von Hurry Inlet bei Nökkedal an, die ich ausfallen lasse: ich gehe ins Gym, und danach eröffne ich die Jakuzzi-Saison auf Deck 5. Während ich im warmen Wasser liege, blicke ich auf hellblaue Eisberge schneebedeckte Bergkuppen, dazwischen laufen kleine rote Punkte – meine Mitreisenden – herum. Ich geniesse den Moment, den ich hier ganz für mich alleine habe.

Der Kellner deutet nach rechts, als ich das Restaurant zum Dinner betrete. A. aus der Schweiz, J. aus Maine, G. aus Georgien und Jay aus Wales winken und zeigen auf den letzten leeren Platz. Jetzt ist die Runde perfekt, strahlt A. Sie hat recht: wir lachen und albern herum, amüsieren uns über die Chinesen, die sich heute zum Captains Empfang in oscarreife Abendroben geworfen haben und aufgeregt im Restaurant hin- und herlaufen.

Sally, die chinesische Travelagentin, trägt ein schwarzes langes Kleid mit einer goldbestickten Stola. Sie hat Geburtstag. Die philippinischen Kellner bringen eine Torte und singen zur Gitarre gleich mehrere Geburtstagslieder, wir klatschen mit. Sally ist sichtlich gerührt; mit einer Flasche Rotwein bewaffnet, kommt sie an unseren Tisch, sie möchte mit uns anstossen und schenkt ein, Lucky Sally sei ihr Name, sie habe heute nicht nur Geburtstag, auch Nordlichter würden wir heute Nacht sehen, ihr roter Lippenstift ist verwischt, sie schwankt, und sie ist glücklich. Das ist alles, was zählt.

Jay notiert sich unsere Kabinennummern, er wird klopfen, wenn er Nordlichter sieht. Noch ein Drink in der Bar, zu dem uns G. aus Georgien einlädt, dann gehe ich zu Bett.

In unserer Kabine breitet sich das Chaos aus: D. hat es immer noch nicht geschafft, so richtig auszupacken bzw. ihre Sachen wegzuräumen. Ich sehe das gelassen, mache mich bettfertig und schlafe ein.

Durchsage von der Brücke und zeitgleich ein lautes Klopfen an der Tür, Jay stürzt herein, Nordlichter über uns! D. will im Pyjama loslaufen, zieh eine Jacke über, wir haben Minusgrade an Deck, rufe ich ihr nach, ich ziehe an, was in greifbarer Nähe liegt. Auf Deck 5 laufen die Chinesen zwischen aufgebauten Stativen herum, unter den roten Arktis-Jacken schauen der rote Tüll und die grüne Spitze der Abendkleider hervor. Über uns am Himmel fangen die Nordlichter an zu tanzen, es schaut aus als spielten sie miteinander, es werden immer mehr. Lucky Sally kommt auf mich zu und strahlt, zeigt in den Himmel, fällt mir in die Arme, wieder und immer wieder, sie ist Lucky Sally, und heute ist sie richtig glücklich.

Tag 5

Ich packe heute die Koffer aus, sagt D., die ihre Sonnenbrille nicht finden kann. Ich helfe ihr beim Suchen.

Um 7.15h sitze ich am Frühstückstisch, da ich bereits für die 8.15h-Anlandegruppe eingeteilt bin. Wir steuern mit den Zodiacs Hekla Havn auf Denmark Island an. Das Meer ist ruhig, die Sonne scheint über den schneebedeckten Bergen, während wir auf die kleine Bucht zusteuern. Die Landschaft hat sich in herbstliche Farben gehüllt, rote, gelbe, rosafarbene und weisse Blümchen säumen den moosigen Untergrund, ganz weich geht man hier, als würde man über einen dicken Teppich schreiten. Wir sehen jahrhundertealte Steinformationen, die auf Campingplätze hinweisen.

Zwischen Rückkehr und Mittag haben wir eine Stunde Zeit. D. packt tatsächlich ihre Koffer aus und räumt auch noch das Sofa leer. Daisy (unser Zimmermädchen) wird überrascht sein, meint sie. Sie wird denken, sie sei in der falschen Kabine gelandet, antworte ich. Wir lachen.

Da das Wetter so herrlich ist, während wir durch den Fonjfjord gleiten, gibt es Lunch draussen auf Deck 5. M., eine ältere Dame aus den Niederlanden, proklamiert ein erdachtes Haiku über ihre innige Begegnung mit einem Baby-Pinguin in der Antarktis. Ich höre zu und blinzele in die Sonne.

Später gibt es noch einen Zodiac Cruise rund um Red Island herum. Die Natur ist unbeschreiblich schön.

Tag 6

8.15h, Minus 8 Grad: wir sitzen in den Zodiacs und steuern eine bergige Insel im Rype Fjord an. Wir sehen Moschusochsen, Vögel und Robben. Die Chinesen tragen bunte Mundschutze und Mützen mit Hello Kitty-Ohren.

Nach 1,5 Stunden Wandern geht es für weitere 1,5 Stunden mit den Zodiacs auf Gletscher- und Eisbergtour. Die Sonne strahlt und lässt das Eis in unendlich vielen weiss-bläulichen Schattierungen glitzern.

21 Passagiere sind mutig und wagen den Polar Plunge; bei 1 Grad Wassertemperatur springen sie ins Nordpolarmeer, Jay macht einen spektakulären Salto, und auch die 77-jährige R. gehört zu den Mutigen. Für die polar-plungenden Chinesen gibt es eine Extra-Durchsage: sie mögen vor dem Sprung sagen, ob sie überhaupt schwimmen könnten. Ärztin Gloria aus El Salvador steht an der Gangway mit Handtüchern und Defibrillator parat.

Mittagessen wieder draussen auf Deck 5, Ms Anja, wir haben vegetarische Pizza, lässt mich R., der Oberkellner, wissen. Und Bananencremetorte zum Dessert. Das Leben könnte nicht besser sein.

Wir fahren durch den Øfjord, der zwischen Renland und Milne Land liegt.

Am Nachmittag steht ein zweistündiger Zodiac-Cruise bei Baer-Island im Halve Fjord auf dem Programm. A. sowie S. aus der Schweiz und ich schummeln uns durch die strenge Bordkontrolle: wir gehören eigentlich in die deutschsprachige Gruppe, möchten aber gern mit unseren Freunden, die in der internationalen Gruppe sind, zusammen in einem Zodiac verbringen. G. aus Georgien entkommt seinem russischen Boot, mit J. aus Maine und Jay aus Wales erklimmen wir unser Zodiac, irgendwie sind wir doch alle international.

Dieser Nachmittag wird unvergesslich bleiben: um uns herum ragen schneebedeckte Berge auf, wir fahren an Gletschern vorbei, umrunden wundersam geformte Eisberge, die sich im Wasser spiegeln und liegen still neben den Eisschollen, um Robben in der Sonne zu beobachten.

Als wir wieder am Schiff ankommen, liegen wir uns in den Armen. Das Leben ist schön.

Mitten in der Nacht die uns schon bekannte Durchsage: Nordlichter am Himmel! Wir kriechen aus den Betten, ziehen an, was in greifbarer Nähe liegt und laufen los. Es ist eisig auf Deck 5, der Wind bläst uns empfindlich ins Gesicht. Ich setze die Kapuze auf und schaue in den Himmel. Sterne, Sterne, Sterne – die Nordlichter sind nicht mehr auszumachen.

Tag 7

Anlandung in Eskimobukta. In den Bergen klettern Moschusochsen, wir klettern auch. Wir sehen alte Gräber: Steinhaufen, durch die man durchblicken und Knochen und sogar einen Totenkopf erkennen kann. Etwas weiter die Reste der Häuser und ein toller Ausblick auf das Meer, die Berge, die Gletscher und das Eis.

Den Nachmittag verbringen wir im Frederiksdal im Nordvestfjord. Statt der Wanderungen entscheide ich mich für das Beach-Bunny-Programm und schlendere die Bucht entlang, setze mich auf einen Stein und schaue aufs Meer.

Auf unsere Freundschaft, ruft Jay, die Gläser mit dem Weisswein klirren, wir jubeln, um uns herum dampft und bubbelt es, am Himmel leuchten der Mond und die Sterne, Eisberge gleiten an und vorbei, während Jay, J. und ich nachts im Jakuzzi das Leben feiern.

Tag 8

Minus 11 Grad. Es ist 6.20h, D. springt aus dem Bett, schau die Berge an, ruft sie, über die sich der rosa Schleier des Sonnenaufgangs gelegt hat. Wir laufen auf Deck 5, um die Sonne zu begrüssen.

Heute Vormittag habe ich mich für das botanische Programm entschieden. Man muss nicht weit gehen, um die Schönheit dieser Welt zu entdecken. Wir schauen im Gosefjord auf den Boden, der mal gefroren unter unseren Schritten knistert und sich an anderen Stellen wie ein dicker flauschiger Teppich anfühlt. Etwas Arnika, ein paar späte Blaubeeren, kleine weiße und lila Blümchen wiegen sich im Wind, es ist kalt, es ist Herbst, nächste Woche wird sich der Schnee über die arktische Landschaft legen.

Zurück an Deck, gehe ich mit meiner Zimmergenossin auf die Brücke. Wir setzen uns draussen unter die breite Fensterfront und geniessen die Sicht auf die unendlich vielen Eisberge.

Viking Bay – Frede Glacier.
If you think we can’t top the highlights of this trip…we can!, so die Ansage der Expeditionsleitung. We have spotted something white and fluffy outside….Eisbären!!!!
Das ist sehr selten, auch wenn unsere Anlandungsplätze immer sorgfältig auf Eisbärspuren geprüft werden und das Team für den Notfall mit Gewehren ausgerüstet ist.

Trotz des Hineinschummelns in die internationale Gruppe – ein aufwendiger Akt – schaffen wir es nicht, zusammen ein Zodiac zu bekommen. A. aus der Schweiz landet im russischen Boot, S. aus der Schweiz samt D. und G. aus Georgien sind im internationalen Boot, Jay aus Wales, J. aus Maine und ich sind bei den Amerikanern gelandet.

Alle Zodiacs sind im Einsatz, wir nähern uns dem Gletscher und den Bergen. Mitten am Berg, auf einer schneebedeckten Platform, bewegt sich etwas Weisses. Unser erster Eisbär! Ganz still ist es in den Booten, selbst den sonst agilen Chinesen scheint es die Sprache verschlagen zu haben.

Der Bär legt sich hin; wir steuern dichter an den Gletscher heran. Wieder ist eine Bewegung am Berg auszumachen: ein Eisbär und zwei Eisbärbabies schauen in unsere Richtung. Dahinter der Gletscher mitsamt seinen türkisfarbenen Eisbergen- und Schollen, die wie überdimensionale Diamanten in der Sonne glitzern.

 

Im Restaurant, das heute mit chinesischen Lampions und Luftschlangen geschmückt ist, sitzen wir alle wieder zusammen an unserem Tisch. Lucky Sally ergreift das Mikrofon: heute ist das chinesische Moon Festival, ein wichtiger Feiertag in China, der mit der Familie gefeiert wird. Heute sind wir auf diesem Schiff eine große Familie, sagt Lucky Sally. Zum ersten Mal verschwimmt die unsichtbare Grenze, die sich durch die Chinesen und den Internationalen und durch das Restaurant gezogen hat.

Wir sind jetzt Chinesen, stelle ich fest.
Die neue chinesische Familie kommt an unsere Tische und bietet chinesische Kuchen und Süssigkeiten an, macht Fotos it den neuen Familienmitgliedern, sie singen und klatschen und sind fröhlich, während wir noch etwas verblüfft aus der Wäsche schauen und die teils schrecklich schmeckenden Süssigkeiten heimlich im indischen Curry und den Tagliatelle verstecken.

Bevor der Sake an unseren Tisch ankommt, machen wir uns auf den Weg zu Deck 5. Im roten Baywatch-Badeanzug und mit meiner Flasche Rotwein bewaffnet, treffe ich bei Minus 8 Grad auf meine Freunde im Jakuzzi. The party can start!

Tag 9

Wale!, rufe ich aufgeregt und deute irgendwo ins Nordpolarmeer. Ganz nah am Schiff!
Der Kapitän und der Safety Officer, die bis eben noch konzentriert auf der Brücke gearbeitet haben, schauen auf. Well spotted, werde ich vom Kapitän gelobt, der jetzt zu mir herübergetreten ist, es dürften Finnwale sein. Nach dem Lunch komme ich wieder, lasse ich das Bridge-Team wissen, ich bin ja schnell enthusiastisch bei der Sache.

Im Restaurant berichte ich von meiner Walsichtung, leider hat weder die Brücke noch die Expeditionsleitung eine Durchsage gemacht, und nun sind meine Mitreisenden etwas geknickt. Auf Wale haben sie bisher vergeblich gewartet.
Nach dem Mittag werde ich als Watchman wieder on duty auf der Brücke sein.

Nachts ertönt wieder einmal die Durchsage, das Nordlichter zu sehen seien, ich schlafe weiter, murmele ich, D. sucht ihre Kamera (ich helfe ihr nicht beim Suchen) und macht sich auf in die Kälte. Kurze Zeit später ist sie zurück, die Nordlichter waren schwach und nur auf den Fotos der chinesischen Familienmitglieder zu sehen, die ihr allerdings Fotos schicken werden. Das Moon Festival hat sich ganz positiv auf die chinesisch-internationalen Beziehungen an Bord der Sea Spirit ausgewirkt.

Tag 10

Unser letzter Landausflug geht in das kleine isländische Fischerdorf Suoureyri mit 240 Einwohnern. Eine Premiere: hier ist noch nie ein Schiff mit Passagieren angekommen. Die Fischer haben ihre Boote umgeparkt, damit unsere Zodiacs Platz am Anleger haben. Und so wird in dem kleinen Dorf morgens um 8.15h Fisch für uns gekocht (ich setze aus),  dann geht es zur Besichtigung der ortseigenen Fischfabrik (ich setze aus), es gibt Fischfrikadellen (ich setze aus) und zu guter Letzt noch getrockneten Fisch zu probieren (ich setze aus).

D. (zur Erinnerung: 76 Jahre alt) ist begeistert; sie war im ersten Zodiac beim Anlanden und im letzten, als es aufs Schiff zurückgeht. Ich frage mich, wo sie ihre unglaubliche Energie hernimmt. Allerdings brauchen wir diese, da wir mal wieder ihren Zimmerschlüssel suchen.

Auf der Brücke – neben dem Jakuzzi an Deck 5 mein Lieblingsplatz – werde ich fröhlich begrüsst, man kennt mich hier schon, ich komme täglich vorbei, und ausserdem habe ich die Wale gesichtet.
5 Meter hohe Wellen mit Windstärke 8 stünden uns bevor, die gesamte Strecke zurück nach Reykjavik.

Die Expeditionsleitung mahnt uns, unsere Seekrankheit-Tabletten einzunehmen und unverzüglich die Koffer zu packen; wenn es erstmal stürmt, würde das Packen schwierig werden.

Ich bin in 15 Minuten fertig mit meinem Gepäck; als ich wieder in die Kabine komme, sieht es allerdings aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. D. packt nicht, D. sitzt vorm Spiegel und tuscht sich seelenruhig die Wimpern. Ob ich ihr beim Packen helfen solle, frage ich. Sie sei so gut wie fertig, kommt als Antwort und das Chaos ignorierend, ausserdem müssten wir jetzt die Präsentation des Bordfotografen in der Lounge verfolgen.
Wir machen uns auf den Weg in die Lounge, die Sea Spirit schaukelt vor sich hin.

Nach der Präsentation bleibt unsere Clique sitzen und tauscht Adressen aus. Wir wissen nicht, dass wir uns in diesem Moment zum letzten Mal sehen werden.

Der Sturm nimmt zu. Fasziniert blicken wir aus unserem Kabinenfenster, an das die Wellen krachen, mal scheinen wir unter Wasser zu sein, mal sehen wir nur den Himmel, wir schweben, wir fallen krachend in die Tiefe. D.s Noch-Nicht-Kofferinventar trudelt und fliegt durch die Kabine. Mit dem Captains Dinner wird das nix, sage ich, als ich auf allen Vieren ins Badezimmer krieche.
D. stimmt mir zu, safety first, wir bleiben auf den Betten liegen und lassen uns grüne Äpfel und Cracker bringen. Tut uns auch mal ganz gut, meine ich, nach den unzähligen Kuchen, Waffeln, Cremes und Crepes.

Ansage von der Brücke: das Captain Dinner fällt aus, ausserdem würden wir nach Backbord drehen, es würde noch stürmischer werden. Die Passagiere mögen bitte sicher sitzen oder noch besser: im Bett liegen. Das Herumlaufen auf dem Schiff wird verboten.
Wir machen das richtig, ruft D. unter ihrer Bettdecke hervor, während die Sea Spirit ächzt und sich durch die Wellen kämpft.

Tag 11

Am nächsten Morgen, wir laufen aufgrund des Unwetters mit vier Stunden Verspätung in Reykjavik ein, erfahren wir, dass A. aus Kalifornien in der Kabine gestürzt ist und zwei Passagiere mitsamt ihren Stühlen im Restaurant umgekippt sind.
Auch unser Tisch war am letzten Abend spärlich besetzt, die Stimmung verhalten. Den Abschiedsabend hatten wir uns anders vorgestellt.

Um 4.00h morgens steht D., die eigentlich erst um 9.00h auschecken muss, mit mir an der Gangway. Sie singt mir ein amerikanisches Lied vor, das man Kindern zum Trösten vorspielt, damit sie beim Abschiednehmen nicht weinen.
Wir umarmen uns, vergiss nicht zu packen, sage ich, D. aber steht an der Reling und ruft meinen Namen und winkt, bis ich endgültig im Bus, der mich zum Flughafen bringt, verschwunden bin.

Epilog: was bleibt.

Ich habe das Nordpolarmeer gesehen.
Ich habe die Nordlichter beobachtet, die am schwarzen Himmel tanzten und die Eisberge im dunklen arktischen Meer verzaubert strahlen liessen.
Ich habe die klare Luft gefühlt, kalt und rau, die durch die Dänemarkstraße nach Ostgrönland zog.
Ich habe die Gischt im Gesicht gespürt, kühl und frisch, während wir in Schlauchbooten durch das ewige Eis geglitten sind.
Ich habe die Wale gesehen, deren Rücken glänzend aus dem Meer auftauchten, bevor sie wieder in der Tiefe verschwanden.
Ich habe die Eisbären gesehen, „white and fluffy“.
Ich habe die Gletscher und die Eisberge bestaunt, die in unendlich vielen Blautönen geglitzert und unseren Weg in die Kälte gesäumt haben.
Ich habe am Tag die helle Sonne gesehen und nachts den Mond. Und die vielen Sterne, hoch über uns.
Ich habe mich auf den Weg gemacht.

Ich habe neue Freunde gefunden.

Und ein chinesisches Familienmitglied bin ich auch geworden…

– Ende –

Nachtrag
Email von D:
…You will be happy to know that I am fully unpacked and am now ready to pack again to leave for California on Thursday!
Thank you for being such a good, kind and patient roommate
🤗 Fond memories! Take care“