Prolog

Das kleine Mädchen, das mir im Flieger vom Sitz vor mir zulacht und winkt und sich immer wieder versteckt.

Der Argentinier, der morgens beim Aufwachen an meinen Arm tippt und zum Fenster deutet; die Sonne geht auf, der stahlgraue Himmel ist mit einem leuchtend roten Band durchzogen.

Der jüdische bandoneonspielende Taxi-Guide, mit dem ich auf der Fahrt vom internationalen zum nationalen Flughafen in Buenos Aires auf italienisch plaudere: über Fussball, Merkel und das verschwundene U-Boot.

Die Luxemburger auf dem Flug nach Ushuaia eine Reihe hinter mir, die zwischen den schneebedeckten Bergen, über die wir erschreckend tief fliegen, die Landebahn ausmachen.

Der Taxifahrer, der mich zu meinem Hotel in die Berge fährt und wir dabei Tangos hören. Er könne auch tanzen, sagt er und schaut mich an.

Nach über 33 Stunden erreiche ich mein Ziel: Ushuaia, Fin del Mundo, das Ende der Welt.

Es ist so schön, wieder hier zu sein. Morgen Nachmittag geht es auf‘s Schiff.

Tag 1

Habe draussen im Whirlpool, mit Blick auf die schneebedeckten Berge, die ersten Kontakte geknüpft:

G., 46 Jahre, kommt aus Südengland und reist seit einigen Monaten durch Südamerika. M., 72 Jahre, ist Kroate und lebt in Australien. Ich hatte ihn gestern als Ami verifiziert, als er im Pool verlauten liess, dass sein Pool zuhause grösser sei, er ihn aber nicht nutze, da sein Haus am Strand liege. Er dachte wiederum, dass ich Russin bin.

Die beiden Herren, die sich bis gestern auch noch nicht kannten, teilen sich eine Kabine. M. teilt mir dazu sofort mit, dass er aber nicht schwul sei (was mir egal ist).

Meine Zimmergenossin ist wohl eine 66-jährige Schweizerin, „we call her Sally“, sagt G., der ihren Namen zu kompliziert fand. Ich bin gespannt auf Sally; während ich mit G. plaudere, rückt M. immer dichter an mich ran. Wessen Bein er da gerade neben sich habe, fragt er – seines, antwortet G. Das kann ja noch lustig werden.

Der Rest der Reisetruppe besteht aus 80% Chinesen, die einen Dolmetscher dabei haben. Die Chinesen tragen Neonfarben und pinke Turnschuhe. Die anderen 20% sind Amerikaner, Australier, Briten, eine Schweizerin, ein Kroate und ich.

Ich steige aus dem Whirlpool, ziehe den Bademantel über und schwimme drinnen noch einige Bahnen.

Und freue mich sehr auf den Whirlpool an Deck der kleinen MV Sea Spirit.

Tag 2

Ich wache auf. Es ist Nacht, meine Kabinengenossinnen, Y. aus Israel und J. aus Kalifornien, schlafen. Es stürmt heftig, während wir die Drakepassage durchqueren. Die Kabinenwände knarren, zwei Flaschen rollen über den Boden, Schubladen gehen auf und zu, das Schiff scheint auf Wellen zu schweben um dann immer wieder in die Tiefe des Meeres zu stürzen. Ich taste mich vorsichtig aus dem Bett und sichere die Flaschen.

„Especially the bathroom door is evil“, sagte die Expeditionsleiterin im Briefing. Das stimmt, die Tür fliegt mir sofort aus der Hand, als ich sie öffne. „Eine Hand immer am Schiff“, auch das ist ein guter Tipp, da man von einer Seite auf die andere geschleudert wird. Um 5.00h nehme ich die zweite Reisetablette, um 8.00h gehe ich in den Frühstücksraum.

Die Flure sind den Wänden entlang mit Spucktüten bestückt.

Der Frühstücksraum erinnert an ein Chinarestaurant; auf den Tischen stehen chinesische Flaggen, an den Decken und Fenstern hängen rot-gelbe Lampions. Nur von den Chinesen fehlt jede Spur. Alle seekrank, konstatiert der Kellner.

Mit 14 anderen Gästen nehme ich am Zodiac-Briefing teil, das eine Pflichtveranstaltung ist. Aufgrund der Tatsache, dass die anderen 93 Gäste flachliegen, muss es morgen wiederholt werden.

Vor den Fenstern türmen sich meterhohe Wellen, ein Albatros fliegt vorbei. Ich gehe auf Deck 5 nach draussen, die anderen Decks wurden aus Sicherheitsgründen gesperrt. Dort treffe ich R. aus der Schweiz und L. aus China, der uns die Vögel, die hier vorbeifliegen, erklärt. Die Luft ist kalt, wir halten uns an den Wänden fest.

Das Mittagessen lasse ich ausfallen, nehme die nächste Reisetablette und lege mich ins Bett, meinen jungen Zimmernachbarinnen geht es schlecht und frequentieren das Bad.

Um 15.00h beschliesse ich, einen weiteren Rundgang zu machen. In der Kabine gegenüber, in der drei ältere California Girls untergebracht waren, wird das Fenster gesichert und zugenagelt. Ich hangele mich an den Wänden entlang. Crewmember stehen an jeder Ecke, Gäste sind kaum zu sehen. Dafür haben sich die Spucktüten grosser Beliebtheit erfreut. Sie sind fast alle verschwunden.

Später verbringe ich den Nachmittag mit einem Kanadier und einem Schweizer in der Club Lounge, wir plaudern stundenlang, den Horizont fest im Blick. Zwischendurch trinken wir Tee und knabbern Kekse, was anderes kann man bei dem Sturm auch nicht tun. Wir seien die einzigen Gäste, die noch so fröhlich sind, stellt die Meeresbiologin fest.

Das ändert sich beim Dinner im Restaurant, die Luken sind geschlossen, die Gläser kippen von den Tischen. Ich schnappe meinen Teller und wanke zurück in die Club Lounge. Mit Blick auf den Horizont geht es mir besser. Noch bin ich ohne Spucktüte ausgekommen.

Tag 3

Es ist immer noch stürmisch: Ausläufer des Tiefs, das vor vier Tagen durch die Drakepassage zog und 11-12 Meter hohe Wellen mit sich brachte.

Y. ist nach zwei Tagen aufgestanden, nachdem ich den Bordarzt alarmiert habe.

Vorträge über Wale, Pinguine und Scott&Amundsen besucht.

Auf Deck 5 mit L., dem chinesischen Vogelkundler, den Albatros beobachtet. Es wird kälter.

Mittlerweile ist die Hälfte der insgesamt 108 Passagiere wieder auf den Beinen. In der Bibliothek stehen Staubsauger zum Reinigen der Expeditionsausrüstung bereit. G. schlägt vor, eine Poolparty zu machen. Der Jacuzzi an Deck ist allerdings noch ohne Wasser. Zu stürmisch.

Und dann kommt der grosse Moment: die ersten Eisberge sind in Sicht.

Laufe auf die Brücke. Der Kapitän deutet nach rechts: ‚A group of whales, starboard!‘ Es sind Buckelwale.

18.00h: Land in Sicht. Wir sind angekommen.

Tag 4

Auf Deck 3 sind fast alle Kabinentüren geöffnet: in einer Kabine brütet eine Gruppe Chinesen über einer Karte, in der Kabine schräg gegenüber wird Wäsche gewaschen und auf eine Leine gehängt, die quer durch den Raum gespannt ist. Hausboot-Feeling kommt auf.

Heute tragen die Chinesen hellgrüne Shirts und sind mit Bannern ausgerüstet. Ich beschliesse, mein chinesisches Socialising auszubauen und frage nach: es ist ein Schwimmverein, die Banner sagen: wo bist Du gerade? Ich schwimme hier! Wir positionieren uns mit den Bannern vor der Weltkarte und machen Fotos.

Dann steht der erste Landgang an: wir springen – zehn Personen pro Boot – in die Zodiacs und besuchen die chinesische (Überraschung!) Station auf King George Island. „Moscow, move closer!“, ruft unser Brite den Russen zu, als die finnische Zodiac-Fahrerin darum bittet, enger zusammzurücken. Die California Girls und ich lachen.

Auf der Station sind die Wissenschaftler beschäftigt, aber wir dürfen das Museum besuchen und machen Fotos vor der chinesischen Flagge.

Der Himmel ist grau, um uns herum sind Berge und Schnee. Ein Esel-Pinguin brütet am Wegesrand, drei weitere schwimmen an Land.

Wir stiefeln ins Wasser, klettern zurück ins Zodiac und steuern um Riffe und Inseln. Chin Strap-Pinguine, Adelie-und Esel-Pinguine watscheln über ihre Penguin Highways, einige rutschen bäuchlings die Berge herunter. Ein Seeleopard taucht direkt vor unserem Schlauchboot auf. Es fängt an zu schneien.

‚Why are you coming back that early?‘ Der 72jährige Kroate M. steht an der Zodiac-Station und schaut zu, wie wir landen. ‚Because we missed you already’ entgegne ich. M. schmunzelt. Von den Pinguinen hat er schon nach einem Tag genug gehabt und zieht es vor, auf dem Schiff zu bleiben. ‚You are all penguinized’, stellt er fest.

Nach dem Captains Cocktail zieht meine Zimmergenossin J. ihren roten Badeanzug an und setzt eine riesige Fellmütze auf den Kopf, ihr Ziel ist der Jacuzzi an Deck.

Tag 5

Dresscode orange bei den Chinesen. Nach unserem gestrigen Landgang auf Halfmoon Island hängen nun unsere Klamotten zum Trocknen verteilt in der Kabine. Hausbootfeeling auch in 339.

Weckruf um 6h, doch wir können nicht wie geplant nach Mikkelsen Island übersetzen, der nächste Sturm zieht auf. Wir üben uns in Flexibilität und lichten den Anker.

Seit gestern haben wir auch unsere Campingausrüstung, die aus drei Teilen pro Person besteht und die wir – als erste Aufgabe – zusammenbasteln müssen: Innenschlafsack in dicken Schlafsack in Bivi-Bag und dann gerollt ins Netz. J. hat das in ein paar Minuten erledigt, ich konsultiere Y., die fast fünf Jahre in der israelischen Armee gedient und somit Expertise hat. Sie ist die einzige in unserer Kabine, die dem Campen nichts abgewinnen kann und sich schon darauf freut, unsere Luxuskabine für sich allein zu haben.

Immer mehr hellblau-leuchtende Eisberge tauchen im grauen Meer auf, das mit dem Himmel eins geworden ist. Es schneit. Und schneit. Und schneit.

Wir klettern in die Zodiacs und fahren dichter an die Gletscher und Eisberge heran. Das Meer ist unruhig, wir klammern uns an das Tau, das um das Zodiac läuft. Wasser spritzt ins Boot, wir sind bereits nach einigen Minuten durchnässt, auf den Lippen klebt das Salz, die Wangen sind nass und kalt.

Um uns herum unfassbar schöne Gletscher und Eisberge, die in den verschiedensten Blautönen leuchten; wir befinden uns in einer Welt, die so surreal wirkt und doch so wirklich ist.

Da die Wettervorhersage für nachts auch wieder auf Sturm steht, fällt unser Camping aus.

Stattdessen gibt es um 21.00h eine Party mit DJ und Glühwein am Jacuzzi auf Deck 5, es wird gefeiert und getanzt, während es schneit und das Schiff durch immer dichter werdende Eisschollen gleitet. Titanic, sage ich zu dem Australier. Er nickt.

Meer und Himmel verschwimmen zu einem dunklen Grau. Grey Out statt White Out. Und eine Schicht aus Eisschollen um uns herum.

Tag 6

Der Wake Up Call um 7.00h verkündet, dass die Anlandung auf Useful Island in der Gerlache Strait mit den Zodiacs „bumpy“ wird. Der Schnee, der in der Nacht fiel, hinterlässt glitschige Decks an Bord und Felsen auf der Insel.

Wir sind die Ersten, die in dieser Saison auf Useful Island landen. Unberührte Natur. Esel-Pinguine brüten in ihren Kolonien und klauen sich gegenseitig die mühsam gesammelten Steinchen aus den Nestern, der Wind weht den üblen Guano-Gestank zu uns herüber. Mindestens fünf Meter Sicherheitsabstand zu Pinguinen sind Pflicht, um sie nicht zu stören. Ausserdem dürfen wir den rotbeflaggten Pfad nicht verlassen, Gletscherspalten können unter dem Schnee lauern.

Es schneit und stürmt, während wir hintereinander einen Gipfel erklimmen, allesamt in dicken roten Jacken, Mützen, Sonnenbrillen Handschuhen, Boots und Rucksäcken; so muss sich eine Everest-Expedition anfühlen. Aber mit Pinguinen.

Mittagsbesuch auf der Brücke. Der Ausblick ist atemberaubend; das Schiff gleitet durch Eisberge, um uns herum riesige Gletscher, Berge und Schnee. Ich habe noch nie etwas so schönes gesehen.

Nachmittags geht es weiter nach Noka Island; wir setzen über, erklimmen den nächsten Berg, um uns herum Penguin-Highways und Kolonien mit brütenden Esel-Pinguinen inmitten einer gewaltigen Gletscherlandschaft. Das Wetter schlägt um: statt im Sonnenschein geht es im Schneesturm dem Gipfel entgegen.

In der Club Lounge frage ich die Chinesen am Nachbartisch, was in den flaschenähnlichen Behältnissen ist, die sie fast alle vor sich stehen haben. L., die zwar kein englisch aber etwas deutsch spricht, erklärt, dass es Tee aus Baumflechten sei, die sie aus China mitgebracht haben. Ein Mann aus ihrer Gruppe springt auf und kommt mit Tassen zurück. M. und ich werden zum Tee eingeladen: es duftet und schmeckt nach Jasmin, Blüten und Blätter schwimmen in unseren Tassen. Als ich frage, ob sie auch Taiji machen, ist die Begeisterung gross. Wir verabreden uns locker für die nächsten Tage auf eine gemeinsame Session.

Dinner mit den drei California Girls, die ich in mein Herz geschlossen habe und meiner israelischen Zimmergenossin Y. (auch ins Herz geschlossen). M. und C. haben gestern gesehen, wie C., der Autist ist, mit bewegenden Worten die Asche seines verstorbenen Freundes in der Antarktis verstreut hat. Und erzählen, dass M. immer die Asche ihres verstorbenen Mannes und C. die ihrer verstorbenen Mutter dabei hat. G. schaut ungläubig und kann es nicht fassen, dass sie ihre Kabine statt zu dritt de fakto zu fünft teilen. Ihr gruselt‘s.

Wir erreichen Paradise Bay. Da ich das Unterfangen ‚Camping‘ gecancelt habe (ich bin auch so glücklich*), ziehe ich meinen Doutzen Kroes I-Bikini an und gehe um 22.00h mit Y. in den Jacuzzi auf Deck 5. Um uns herum Stille und die unwirkliche Kulisse der Antarktis. Schneeflocken rieseln auf uns herab.

*) Safety first: zum Campen ist das Mitbringen von Getränken und Nahrung verboten. Medikamente müsste man für 2 Tage dabei haben, falls man durch die Wetterlage gehindert wird, zurück zum Schiff zu kommen. Tamoxifen kann ich nur mit Getränk und zu einer Mahlzeit einnehmen. Deshalb habe ich das lieber abgesagt.

Tag 7

Um 8.00h sitzen wir im Zodiac und steuern die Brown Station an. Etwas fehlt: kein Wind, keine Wellen. Die Station ist unbewohnt, um uns herum sind riesige Gletscher, die kalben. Es klingt wie dumpfes Donnergrollen, sonst ist es still.

Ein paar Chinesen kugeln im Schnee einen Hang hinunter, ungeachtet der Tatsache, dass wir den schmalen Pfad aufgrund der Gefahr, die unter dem Schnee lauert, nicht verlassen dürfen. Als ich aus Versehen einen halben Meter neben dem Weg gehe, rufen und winken sie mir zu, um mich zu warnen. Mein Leben scheint ihnen wichtiger zu sein als das ihrer Landsleute. Auf der Fahrt zurück zum Schiff beobachten wir Kormorane.

Die Kabinentüren auf Deck 3 stehen offen, schräg gegenüber ist die chinesische Wäscherei wieder in Betrieb.

Hausbootfeeling.

Ich gehe in die Club Lounge und treffe meine California Girls. Ich liebe unsere Konversationen, wir haben viele Gemeinsamkeiten und Spass miteinander. Stelle fest, dass mein Dresscode bei Jogginghose und Ski-Unterhemd gelandet ist. Fühle mich wie zuhause.

C. deutet auf die Chinesen, die gerade einen Reiskocher aufbauen. Auch sie scheinen sich wie zuhause zu fühlen.

Die Durchquerung des Lemoire Channels verbringe ich wieder auf der Brücke. Schneesturm (mal wieder), im Grau um uns herum mache ich riesige Berge und Gletscher aus. Ein Wal taucht kurz auf und verschwindet wieder in den Tiefen des Meeres.

Die Ankunftszeit für Port Lockroy verzögert sich: vor uns Eisberge, die den Weg versperren. Das Eis schmiegt sich immer dichter an die Sea Spirit. Port Lockroy ist eine ehemalige Basis der Briten, die heute ein kleines Museum ist. Unsere Postkarten stecken wir dort in den Briefkasten und sind gespannt, ob und wann die Karten ankommen. God save the Queen – and our mail.

Auf dem Weg zurück zum Zodiac fängt es wieder an zu schneien, das Szenario hat etwas weihnachtliches.

Beim Abendessen landen die California Girls beim Thema Brustkrebs. Ich oute mich. Und bin angetan, wie sachlich – aber auch gefühlvoll – wir darüber sprechen. Und dann zum nächsten Thema übergehen. Ich vergesse den Krebs nicht, räume ihm aber kaum mehr Platz ein wie die tägliche Einnahme der Tamoxifen-Tablette dauert. Viel Sport und gesunde Ernährung sind feste Bestandteile meines Lebens, genauso wie die regelmässigen Nachsorgetermine. Ich habe meinen Frieden gefunden.

Tag 8

Wir springen vom Frühstückstisch auf und stürmen nach draussen an‘s Deck: Buckelwale schwimmen in unmittelbarer Nähe. Die Maschinen stehen still, das Meer ist ruhig, die Wale kommen näher. Wahrscheinlich sind sie genauso neugierig wie wir.

Ob ich Delphine gucke, fragt M. und stellt sich neben mich. Ne, Dinosaurier, antworte ich. Er grinst. Mit seiner speziellen Art ist der weisshaarige Kroate bereits bei vielen Passagieren angeeckt. Er sei halt nicht wie seine Mitreisende aus Deutschland, die sich für jeden Pinguin begeistern kann. Er zeigt auf mich. Seine zynische Art ist anstrengend für die Enthusiasten an Bord, und das sind alle, bis auf M.

M. ist neben dem Autisten C. auch der Einzige an Bord, der konstant in kurzen Hosen und Polo-Shirt an Deck rumläuft und auf Dresscode Sommer eingestellt ist. Da kann es stürmen und schneien wie es will.

Wir klettern in die Zodiacs und steuern Hydrurga Rocks an: ein Seehund liegt am Anleger, hebt neugierig den Kopf und schaut uns an. Chin Strap-Pinguine laufen die Penguin Highways herunter, wieder wandern wir durch eine unglaublich schöne Welt voller Gletscher, Berge und Tiere.

Die Chinesen rollen weitere Banner aus, wir machen zusammen Fotos, auch wenn mir aufgrund der Sprachbarrieren keiner sagen kann, was draufsteht: ‚das Leben ist schön‘. Das würde mir als Text gefallen.

‚Wir sind am Südpol‘, übersetzt der chinesische Vogelkundler das Banner, nachdem wir von einem aufregenden Ausflug nach Mikkelsen Island zurückgekommen sind. Erstmals in Sonnenschein unterwegs, sehen wir Chin Straps, Robben, Walknochen und einen Adelie-Pinguin, der auf dem Bauch durch den Schnee rutscht. Sturm kommt auf, ich wandere zur Landestelle und wate ins Wasser, um ins Zodiac zu klettern. Die Fahrt wird ‚bumpy‘ und nass, die Wellen krachen ins Boot. C., eines der California Girls, sitzt neben mir und juchzt ununterbrochen. Ich lache, die Russen gucken besorgt. Abenteuerfeeling.

Da auf der Sea Spirit eine open bridge policy herrscht, verbringe ich viel Zeit auf der Brücke. Heute sitze ich im Aussenbereich auf dem Boden in der Sonne, glitzerndes Wasser um uns herum und ein riesiger hellblauer Eisberg vor uns; für mich ist es der schönste Platz der Welt.

Der Polar-Plunge – einige Passagiere wollten mutig vom Schiff ins Eismeer springen – muss ausfallen. Stattdessen Seemannsknoten-Knüpfkurs in der Club Lounge. Die Windstärke liegt bei 10 Beaufort, die Sea Spirit geht in Schräglage, und noch sind wir nicht mal in der Drakepassage. R., die quirlige Australierin, fällt vom Sessel.

Tag 9

Sturm in der Drakepassage. Das Schiff ist wieder mit Spucktüten dekoriert, es sind auffallend wenige Gäste unterwegs.

Die chinesische Waschküche in der Kabine schräg gegenüber hat aber geöffnet.

In der Club Lounge kniffeln die Holländer, die Schweizer sitzen beim Tee und plaudern auf Schweizerdeutsch, die Australier tauschen Reiseerlebnisse aus, ein Chinese schläft nebenan in der Bibliothek.

Um 16.00h hat der Wind nachgelassen. Der Bord-Pianist hat seinen Platz am Flügel eingenommen, parallel läuft Happy Feet auf den Screens, es gibt Scones, Kuchen und Sandwiches. Ein Albatros-Pärchen fliegt seit einiger Zeit neben uns her, füttern verboten, sagt A., der holländische Vogelkundler der Sea Spirit. Ausserdem habe er von der Brücke vernommen, dass die Wettervorhersage nicht gut ist – es soll nochmal so richtig stürmisch werden.

Tag 10

»Unterhalb von 40 Grad gibt es kein Gesetz mehr. Unterhalb von 50 Grad gibt es keinen Gott mehr.«

(Seemannsweisheit)

Zurück wieder durch die Drakepassage, die zwischen dem 56. und 60. südlichen Breitengrad liegt.

Die Club Lounge ist bereits um 9.00h gut besucht, es hat sich herumgesprochen, dass das der ‚place to be‘ bei Sturm ist. Ich nehme meinen Stammplatz am Fenster ein und schaue auf ein bewegtes Meer. Gestern Abend haben wir noch eine Gruppe Buckel- und Finnwale beobachtet.

Y. ist wieder seekrank, die Wellen krachen an das Fenster unserer Kabine auf Deck 3. Anscheinend bin ich nach dem Mittag eingeschlafen, ich wache auf, schaue erschrocken auf die Uhr und sprinte auf Deck 4 in die Club Lounge: heute gibt es Crepe Suzette, die will ich keinesfalls verpassen. Auch die California Girls sind wieder auf den Beinen und halten sich tapfer bei der Wetterlage.

Das letzte Abendmahl zusammen mit den drei California Girls, meinen Kabinengenossinnen Y. aus Israel und J. (noch ein California Girl) und den beiden lebhaften Australierinnen R. und P., die uns an die Serie „friends“ erinnern: grosse Begeisterung, dass die Barkeeperin auch noch „Monica“ heisst.

Nach dem Farewell-Cocktail spaziere ich über das Aussendeck. Wir sind im Beagle-Kanal angekommen, der Sturm hat sich gelegt, um uns herum sind schneebedeckte Berge, über uns ein grandioser Himmel. Wir liegen beim südlichsten Leuchtturm der Welt und warten auf den Piloten, der um 2.00h nachts an Bord kommen soll.

Hinter den Fenstern sehe ich die Chinesen ihre Koffer packen. Das Chaos erinnert mich an unsere Kabine. Ein Pärchen sitzt barfuss auf dem Teppich und spielt Karten.

G., der Brite, den ich bereits im Whirlpool im Hotel in Ushuaia kennen gelernt habe und den ich augenzwinkernd meinen Stalker nenne, kommt mir entgegen: ‚…und dann ziehst Du zu mir nach England, wir kriegen fünf Kinder und haben vier Hunde und drei Katzen.‘ Wir lachen, er geht zurück an die Bar, ich bleibe noch etwas draussen an der Reeling stehen.

Eine Reise neigt sich dem Ende zu. Morgen um 8.00h werden wir in Ushuaia einlaufen.

Epilog

Ich habe wunderbare schneebeckte Landschaften entdeckt, unberührte Natur mit wilden Tieren gesehen und Menschen aus den verschiedensten Ecken der Welt kennengelernt. Ich habe festgestellt, dass man selbst auf einer kleinen Insel wie der Sea Spirit friedlich zusammenleben kann. Ich habe viel gelacht. Ich habe viel erlebt. Ich habe viel gelernt. Ich war ergriffen von der Schönheit dieser Welt. Ich habe neue Freunde gefunden. Ich bin dankbar, dass ich das alles erleben durfte.

Der Kroate M. steht wieder neben mir, als das Schiff in Ushuaia anlegt. ‚I am sad that we are leaving‘, sagt er. ‚You are kidding‘, entgegne ich. ‚You are right‘, antwortet er und grinst. Warum er sich auf den Weg in die Antarktis gemacht hat, wird sein Geheimnis bleiben.

– Logbuch Antarctica – Ende –