Unterwegs.
Ist das Leid, so fragt man sich, nicht das einzige auf Erden, was die Menschen wirklich besitzen?
Vladimir Nabokov, Pnin
Ich sitze mit J. auf einer Bank im Schröders Park, wir schauen auf die Elbe, die Kräne und die vorbeifahrenden Schiffe. Hinter uns stutzen Gärtner die Bäume, der Krach ihrer Laubsägen ist das einzige, was die Idylle stört. Eine alte Frau bleibt stehen und erzählt, dass auf „unserer“ Bank oft Studenten sitzen, die für ihr Examen lernen. Wir lächeln. J. ist Mitte 20 und kommt aus Südkorea; sie studiert in Hamburg Fotografie und hält ihr Notizbuch aufgeschlagen in der Hand. Ich werde Teil ihrer Semesterarbeit sein, die sie in einer Galerie ausstellen möchte. Ihr Thema sind Portraitfotos von Frauen für deren zukünftige Beerdigung. Heute treffen wir uns zu einem Vorgespräch und gehen die Fragen durch, auf die ich ihr später handschriftlich antworten werde.
Die Fragen sind gut, über einige habe ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht, auf andere fällt es mir leicht zu antworten: Wer soll zu meiner Beerdigung eingeladen werden, wer soll nicht erscheinen? Wo und wie möchte ich beerdigt werden? Welche Musik soll gespielt werden? Wie möchte ich in Erinnerung bleiben; wird es vielleicht ein alljährliches Gedenkfest geben? Was möchte ich noch in meinem Leben erreichen? Gibt es eine Begebenheit, an die ich mich immer erinnern werde?
Eine Antwort gebe ich hier schon mal wieder, und das sind Begebenheiten, die ich nie vergessen werde.
Wie jedes Jahr war ich auch im Januar 2016 beruflich in Asien. Ich bin im Büro, gehe ins Bad. Ich wasche mir die Hände und sehe im Spiegel, dass hinter mir zwei burmesische Putzfrauen stehen und mich anstarren. Sie stehen direkt hinter mir, bewegungslos, und schauen mich unverwandt an. Ich ziehe den Lippenstift nach, schaue ein letztes Mal in den Spiegel und drehe mich um. Die beiden schauen mich noch immer an und rühren sich nicht von der Stelle. „You are beautiful“, flüstert die jüngere der Beiden.
Und ich werde niemals vergessen, was Prof. Dr. M. nach dem Durchlesen des radiologischen Befunds zu mir sagte: „80 bis 90 Prozent Chance auf Heilung, 100 Prozent Hoffnung. Ich verspreche Ihnen, dass wir das hinkriegen.“